Sächsische Zeitung – Unmerkliches Abrutschen

13. August 2003

 

Bankangestellte, Bürgermeister, Bundespräsident – auf Gut Gödelitz treffen sich Menschen, die sich um die innere Einheit Deutschlands sorgen

„Günter Gauss hatte mir die Aufgabe übertragen, dieses Land zu beschreiben, die Mauer von Vorurteilen zu durchbrechen, die Normalität des Lebens in der DDR zu zeigen.“ Worte eines Mannes, in dessen Namen deutsch-deutsche Geschichte geronnen ist – Axel Schmidt-Gödelitz, von 1976 bis 1980 Mitarbeiter von Gaus in der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Ost-Berlin.

Gut Gödelitz, zwischen Nossen und Döbeln gelegen, gehörte bis 1945 den Schmidts. Da sie mehr als 100 Hektar Land ihr Eigen nannten, galten sie als Junker, als reaktionär, als Steigbügelhalter der Nazis. Die Familie wurde enteignet, „am 4. Januar 1946 mussten wir hier weg“, der damals vierjährige Axel, seine drei kleinen Geschwister und die Eltern. „Aber das Gut ist immer unsere Heimat geblieben, es war ganz tief in unsere Kinderseelen eingesenkt.“ Später bestimmte der Vater – er sollte das Gut nie wieder sehen – den Zusatz Gödelitz zum Familiennamen, und 47 Jahre später, 1992, kauften es die vier Geschwister von der Treuhand zurück, zehn Gebäude und noch acht Hektar Land von einst 160.

Vorurteile abbauen, Toleranz einüben

„Wir wollen eine Gesellschaft, die dynamisch ist und konkurrenzfähig, wir wollen aber auch eine Gesellschaft, die nach innen und außen friedensfähig ist, das sind die Leitmotive dieses Vereins“, erläutert Schmidt-Gödelitz. Die Rede ist vom 1998 gegründeten Ost-West-Forum. Nachdem die Trinkerheilanstalt ausgezogen war, deren weithin sichtbares Zeichen bis zum Abriss 1985 der Schlot der alten Schnapsbrennerei war. Nachdem klar war, dass der Gutshof nicht mehr die kostenlose Deponie der Umgebung war und 70 Lkws Müll vom Bauschutt bis toten Schweinen abgefahren waren. Nachdem das Guts- zum Gästehaus auf- und ausgebaut worden war, war Gödelitz bereit, das Ost-West-Forum zu beheimaten.

Ein Ziel, das schon im Namen steckt, ist die Verständigung zwischen Ost- und Westdeutschland. Das geschieht, wenn Hans-Otto Bräutigam, letzter Leiter der Ständigen Vertretung über deutsch-deutsche Beziehungen vor 1988 spricht und das gleiche Thema von Herbert Häber, ehemaliges Mitglied des SED-Politbüros referiert wird. Die paritätische Annäherung an ein Thema ist Prinzip des Forums, „es gibt zwei gleichberechtigte Geschichten in Deutschland“, ist Schmidt-Gödelitz überzeugt. Dass es folglich auch zwei Formen von Prägung und Sozialisierung gibt, liegt auf der Hand, von gleichberechtigt wird nur sprechen, wer nicht im Land lebt. Dennoch, in so genannten Biografien-Kreisen kommen der „Republikflüchtling“ und der DDR-Grenzoffizier ins Gespräch, ein Tribunal findet dabei nicht statt. Es geht darum, „Kenntnisse voneinander zu vertiefen, Vorurteile abzubauen, genau zuzuhören zu lernen und letztlich darum, Toleranz einzuüben.“
Schmidt-Gödelitz, 1969 in die SPD eingetreten, legt Wert darauf, dass das Ost-West-Forum ein parteiunabhängiger Raum des Austausches sei. Und führt das Beispiel von Sachsens Ministerpräsident Georg Milbradt (CDU) an. Der hatte im Juli 2001, nach seiner Entlassung als sächsischer Finanzminister, zum Thema „Blutet Sachsen aus?“ gesprochen und war dem Verein spontan beigetreten. 180 Mitglieder aus ganz Deutschland zählt er mittlerweile.

Dass sich in Gödelitz Prominenz versammelt, am 30. September wird Bundespräsident Johannes Rau erwartet, liegt daran, dass Schmidt-Gödelitz nach der Wende das Berliner Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung aufbaute. Dadurch verfügt er über beste Kontakte zu Politik und Kultur. Im Herbst verlässt der 61-Jährige die Stiftung, wird sich ganz dem Ost-West-Forum widmen. „Die Menschen müssen sensibilisiert werden, für dieses unmerkliche Rutschen aus der Demokratie in eine neue, undemokratische Gesellschaftsform“, nennt er ein zweites wichtiges Ziel des Forums.

Herrschaft des Stärkeren nicht zulassen

Symptome für dieses unmerkliche Rutschen sieht Schmidt-Gödelitz in einer zunehmenden Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich. „Die öffentlichen Schulen verrotten langsam, die privaten schießen wir Pilze aus dem Boden; und wo bleibt die Chancengleichheit, wenn man nicht das Geld hat, sich einen guten Rechtsanwalt zu leisten“, nennt er zwei Beispiele. Der tiefer liegende Grund dafür ist der anmaßende Versuch, zweifelhafte ökonomische Modelle zur Erklärung und Steuerung der ganzen Gesellschaft zu benutzen: „Neoliberalismus ist die Herrschaft des Stärkeren, ohne Rücksicht auf die Schwächeren. Wenn wir da nicht gegenhalten, werden wir die innere Friedensfähigkeit dieser Gesellschaft nicht bewahren können“, ist Schmidt-Gödelitz überzeugt.

In der riesigen Scheune des Gutes zeigt er, wo wegen des Andrangs die Stühle gestellt waren, als Milbradt vor zwei Jahren gesprochen hatte. Damals hatte Schmidt-Gödelitz gesagt: „Sollten Sie Ministerpräsident dieses Landes werden, werden wir auf sie zurückkommen.“ Beides ist eingetroffen: Am 23. August hält Mildbradt in Gödelitz einen Vortrag zum Thema Freiheit und Verantwortung.

Von Udo Lemke