Lesung und Gespräch mit Alexander Jakowlew, Mitglied der Akademie der Wissenschaften der Russischen Föderation

In unserer Reihe “Zeitzeugen” stellt sich Alexander Jakowlew mit seiner Biografie “Abgründe meines Jahrhunderts” vor.
Wer ist Alexander Jakowlew? In Deutschland ist er weitgehend unbekannt. Dabei ist er einer der interessantesten, nachdenklichsten und moralisch ernsthaftesten Zeitzeugen der sowjetisch-russischen Geschichte. Zudem einer mit genauesten Kenntnissen über die Innenausstattung und den Zerfall der Sowjetunion.
Einer, der im Apparat der KPdSU aufstieg bis zum Politbüromitglied und dem irgendwann einmal die Illusion über das Regime abhanden gekommen ist. Der in einem Spannungsverhältnis lebte zwischen seinem Bedürfnis, die verantwortungsvollen Ämter im Apparat und in der Führung der Partei bestmöglich auszufüllen – und der zunehmenden Erkenntnis, dass die repressiven Mittel des Regimes im Widerspruch zu seinen Idealen und Utopien stehen. Der Glasnost erfand und durchsetzte und sich später mit Gorbatschow überwarf. Der vom gläubigen Kommunisten zum Christen wurde und sich heute fragt, wie es möglich war, wie und warum Menschen all diese Verbrechen ertragen oder unterstützen konnten
Der Schriftsteller Grigori Baklanow schreibt, es sei schwer, die Gattung des Buches zu bestimmen – und kommt ihr dabei doch nahe: “Memoiren? Ohne Zweifel. Das Zeugnis des Zeitgenossen und Mitgestalter der Ereignisse? Ja. Die höchst scharfsinnige Untersuchung eines Historikers, die auf Dokumenten beruht? Ja. Eine Beichte? Auch das. Doch für Beichte, Buße und Reue bedarf es des Mutes und der Ehrlichkeit, die der Mehrheit unserer Staatsmänner abgingen und abgehen. Auch die Hierarchien der Kirche, die an Buße und Reue appellieren, haben solch ein Beispiel noch nicht gegeben. Auch sie haben etliches zu bereuen und nicht nur andere anzuklagen. Das Buch von Jakowlew ist voller Kühnheit und Zivilcourage. Es hat den Atem der Wahrheit und ist in einer gediegenen und bildhaften Literatursprache verfasst.”

Zur Person:

Alexander Jakowlew kam am 2. Dezember 1923 im Dorf Koroljowo als Kind einer bäuerlichen Familie zur Welt. Als junger Mann erlebte er den Zweiten Weltkrieg, der ihn zeitlebens zum Invaliden machte – aber auch zum heftigen Kritiker jedweder Beweihräucherung von Kriegen durch Propagandisten, die nie im Gemetzel einer Schlacht standen.

Er studierte Pädagogik und Geschichte, fand Unterstützung bei der Partei seines Heimatbezirks, wirkte als Lehrer, Journalist und Instrukteur. Wegen seiner offensichtlichen Begabungen wurde er gefördert und nach Moskau empfohlen – ins Zentrum der “Himmelsbewohner”, ins ZK der allmächtigen Partei. Stufe um Stufe stieg er auf: vom einfachen ZK-Funktionär zum Redenschreiber für ZK-Sekretäre, Generalsekretäre und zum Verfasser von Rechenschaftsberichten bei Parteitagen. 1972 wurde er kurzfristig als Botschafter nach Kanada abgeschoben. Er war Zeuge der Entmachtung Chruschtschows und des Aufstiegs von Breschnew, Tschernenko und Andropow. Die Entwürfe für Perestroika und Glasnost stammen ganz wesentlich aus seiner Feder. Schließlich wurde er Mitglied des Politbüros unter Gorbatschow.

Als einziger Augenzeuge wohnte er dem Drama der Machtübergabe Gorbatschow – Jelzin bei. Er warnte vor neobolschewistischer Blockadepolitik, vor zunehmend mafiosen Strukturen im Staats- und Parteiapparat und vor zügelloser Bereicherung einer Minderheit bei der Verteilung von Filetstücken der Staatsbetriebe. Trotz Morddrohungen und Anschlägen auf sein Leben lässt er sich nicht einschüchtern: “Ihr könnt mir drohen, aber zum Schweigen bringt ihr mich nie!”.

Unter seinem Vorsitz hat die Kommission zur Rehabilitierung der Repressionsopfer aller bolschewistischen Führungen (von Lenin bis Andropow) bis heute über vier Millionen Menschen die Würde ihres Namens zurückgegeben.

Als Ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften und Präsident der Internationalen Stiftung Demokratie gibt er eine stattliche Reihe “bislang als streng geheim klassifizierte Dokumente über Russlands Geschichte im 20. Jahrhundert” heraus.