Sächsische Zeitung – Ein fruchtbarer Boden – nicht nur für Mais

22. Juni 2005

Auf einer Insel wirbt Axel Schmidt-Gödelitz für Veränderung, Vernunft und für mehr Verständnis zwischen Ost und West.


Grün wellt sich das Land bis zum Horizont. Der Mais wächst heran. Die Kirschen gewinnen Farbe. In zwei alten Lärchen lärmen die Vögel. Sonst ist es still, absolut still. Was für ein Ort. Idylle pur. Ein Ort, um die Welt zu vergessen. Aber die Welt ist nicht danach, und auch Axel Schmidt ist nicht danach. Ein agiler Netzeknüpfer und Anstifter. Seine Familie gab sich in den fünfziger Jahren den Namen nach diesem Ort. Gödelitz also.

 

Das ist die Vorgeschichte. Sie erzählt von tüchtigen Landwirten und ihren tüchtigen Frauen, von ertragreicher Schafzucht und Erntewetter und von Herzkirschen, die Franzens Wilde heißen. Rare Sorte, dauerhaft. Von 160 Hektar Land erzählt die Vorgeschichte, das sind sechzig zu viel. Junkerland in Bauernhand heißt die Losung. Sie ist nicht falsch, aber manchmal erscheint sie ungerecht. Familie Schmidt wird 1945/46 enteignet und sucht eine Bleibe im Westen: eine Frau mit vier kleinen Kindern, der Mann noch in Gefangenschaft. Der Betrieb wird Staatseigentum und LPG und gehört nach dem nächsten Umbruch der Treuhand. Ställe, Scheune, eine Hand voll Häuser. Der fruchtbare Boden der Lommatzscher Pflege ist begehrt – und einstiger Besitz kein Argument bei Bodenreformland. Die Vorgeschichte könnte hier enden. Aber Heimweh macht hartnäckig.

 

Axel Schmidt-Gödelitz und seine Geschwister kämpfen sich durch Vereinigungsverwaltungen, und es ist ihnen, darf man wohl glauben, nicht angenehm unter Wendegewinnlern und Glücksrittern aller Art. Die Familie kauft das Gut 1992 zurück und ein gutes Stück Land. Doch vorher geht die ehemalige Besitzerin unter die Leute: Ob sie hier wohl wieder gelitten wäre? Sie wäre. Da bleibt sie. Aufräumen, Umräumen, Ausbauen, das Anwesen war zuletzt eine Trinkerheilanstalt, Schrottplatz und Müllhalde. Es dauert. Aber was für eine Idylle. Ein sanfter Wind geht über die Wiese. Efeu leuchtet in dunklem Grün an der Scheunenwand. Welche Stille. Manchmal jedenfalls.

 

Gödelitz also. Ende der Vorgeschichte. Was dann beginnt, wäre nicht zu verstehen ohne diese Erfahrung. In einem Raum des Gutshauses, karg möbliert, sitzen ein paar Leute und erzählen sich ihre Geschichte. Woher sie kommen, was sie tun, wovon sie träumen. Ost-Leute, West-Leute. „Nach Jahrzehnten der Trennung ist uns die deutsche Einheit fast wie ein Geschenk der Geschichte zugefallen“, sagt Axel Schmidt-Gödelitz. „Aber wir sind uns doch weitgehend fremd geblieben.“ In den Gesprächen ändert sich das. Der Kreis wird größer, bald reichen die Plätze nicht aus. Mancher hört draußen vor den geöffneten Fenstern zu. Eine aufregende Zeit. Noch ist man bereit, dem eigenen Vorurteil zu misstrauen. Ein Verein entsteht 1998: das Ost-West-Forum. Axel Schmidt-Gödelitz gewinnt illustre Namen der großen Politik für das Kuratorium. Richard von Weizsäcker und Jens Reich gehören dazu. Er kennt sie gut, und die Frage ist eher: Wen kennt er nicht?

Übungen in Toleranz

 

Axel Schmidt-Gödelitz studierte Politologie und Volkswirtschaftslehre in Berlin. Er arbeitete als freier Journalist, bis Günter Gaus ihn 1976 in die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in der DDR holte. „Gaus wollte den normalen Alltag der DDR kennen lernen. Darüber habe ich geschrieben“, sagt Schmidt-Gödelitz. Gaus nennt er seinen geistigen Vater. Wenn es noch einiger Übungen in Toleranz bedurft hätte: Da fanden sie statt. 1981 ging Axel Schmidt-Gödelitz zur SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung, koordinierte Entwicklungshilfe in Kairo, später in Peking und übernahm dann die Leitung des Berliner Büros der Stiftung. Jetzt ist er im Vorruhestand. Wenn man das Ruhestand nennen kann.

axel.jpg

Politikwissenschaftler, Landwirt, Träumer, Netzeknüpfer und Diskutant aus Leidenschaft: Axel Schmidt-Gödelitz
Foto: SZ/Marion Gröning

 

Gödelitz also. Das ist die Gegenwart. Hier streitet der alte SPD-Mann Egon Bahr mit der jungen Autorin Susanne Fengler über den Sinn und Unsinn von Parteiprogrammen. Hier erzählt die Schriftstellerin Christa Wolf über ihre Erfahrungen mit dem Schreiben in zwei Gesellschaften. Hier erklärt der Mitbegründer von Attac Sven Giegold seine Kritik an der Globalisierung der Wirtschaft. Es gibt solche Gesprächsrunden anderswo auch. Die in Gödelitz sind besonders. Sie kommen ohne Eiferei aus. Das mag auch mit dem Ort zu tun haben und mit seiner Geschichte. Sie muss einen Mäzen so berührt haben, dass er einen Scheck über 120 000 Euro spendierte. Der alte Schafstall wurde ausgebaut, er bietet 200 Leuten Platz. Manchmal reicht das schon wieder nicht.

 

Der Ton einer Veranstaltung hat vor allem mit dem Moderator zu tun. Axel Schmidt-Gödelitz kann zuhören. Er ist stiller Beobachter im Hintergrund, nicht lautstarker Selbstdarsteller. Jeder Gast auf dem Podium darf zunächst seine Theorien entwickeln, es fällt ihm keiner plappernd ins Wort wie bei einer Fernsehtalkshow. Erst im zweiten Teil redet das Publikum mit. „Der Stil des Ganzen ist taktvoll“, sagt die grauhaarige Frau aus Döbeln, die von Anfang an dabei ist, weil sie hier ein „geistiges Feld“ findet. „Kontroversen gibt es schon, aber keine Aggressionen.“ Das einzige Mal, dass Axel Schmidt-Gödelitz korrigierend eingriff, geschah beim Vortrag eines Amerikaners über den Irak-Krieg. Sie sind doch ein CIA-Mann!, hieß es aus dem Publikum. „Vorwürfe dieser Art sind nicht erlaubt“, sagt Schmidt-Gödelitz. „Hier werden Themen verhandelt, nicht Personen.“

Jeder erzählt sein Leben

 

Das Ost-West-Thema scheint für viele nichts mehr herzugeben: Die Pfründe sind verteilt, die Klischees festgetreten, die Gräben mehr oder weniger locker zugeschüttet. Aber auch das sieht in Gödelitz anders aus. Der junge Unternehmer, Geburtsort Köln, Arbeitsort Brandenburg, kommt schon zum sechsten oder siebenten Mal: „Ich spüre die Spannungen zwischen Ost und West nach wie vor und will wissen, woher Ressentiments rühren. Ich erfahre, was gemeint sein könnte, wenn es heißt, dass früher alles besser war.“ Geschichtsunterricht durch die Brille der individuellen Biografie: So nennt Axel Schmidt-Gödelitz, was hier stattfindet. Neben den Vorträgen initiierte er eine Biografienreihe. Zehn Leute aus Ost und West, aus verschiedenen Berufen sitzen ein Wochenende lang zusammen. Jeder erzählt sein Leben. Keine Diskussion, keine Nachfrage, kein Urteil. Manchmal entstehen Freundschaften daraus. Die Warteliste für die Biografienrunde ist lang. „Das Bild, das wir voneinander haben, muss sehr viel differenzierter werden“, sagt Schmidt-Gödelitz. Er hat hier gelernt: „Es gibt nicht nur meine Wahrheit, es gibt auch die der anderen.“ Seine Ost-Frau und die beiden Kinder, die er „ost-west-gestreift“ nennt, dürften ihn in dieser Erkenntnis bestärken.

 

Eine neue Reihe in Gödelitz holt junge Politiker an einen Tisch. „Welches Weltbild haben wir eigentlich? Ist es lebbar, ohne dass man sich den Kopf blutig schlägt oder den Job verliert? Ist Wahrhaftigkeit nur etwas für Naive?“ Über solche Fragen, meint der Hausherr, müsse man reden. Unruhe treibt ihn um. „Notwendige Reformen gehen ganz offensichtlich einseitig zu Lasten der Schwachen“, sagt Axel Schmidt-Gödelitz. „Die Verunsicherung ist ungeheuer. Die Menschen merken, dass ihre Existenz brüchig wird. Überall wird ihnen Geld abgezwackt, aber es erklärt ihnen keiner, warum in diesem reichen Land der Putz von den Schulen fällt, warum sich die Gesellschaft in Arm und Reich spaltet, wie wir es nie zuvor erlebt haben. Das führt auch zu einer mentalen Spaltung.“ Von Ost und West ist da nicht mehr die Rede.

 

Warnsignale sind deutlich.

 

Schwalben pfeifen über das Scheunendach. Sitzgruppen im Schatten erinnern an Urlaub. Gödelitz also. Das ist die Zukunft. Kluge und überaus friedliche Gespräche unter Gleichgesinnten, die zu Einverständnis führen und womöglich zur sanften Verbesserung der Welt. Es wäre zu schön.

 

Axel Schmidt-Gödelitz sieht sein Ideal vom „sozialen demokratischen Rechtsstaat“ bedroht durch die Spaltung der Gesellschaft, auch durch die Medien. Ereignet sich Primitivisierung zufällig? „Die Springers, Murdochs und Berlusconis dieser Welt wissen schon, was sie tun“, sagt Schmidt-Gödelitz und erzählt, wie er in Döbeln die Wochenzeitung „Die Zeit“ kaufen wollte und eine „Bild“-Zeitung bekam. Auch die Zahl der Nicht-Wähler und Rechts-Wähler beunruhigt ihn. „Wir leben in einer Gesellschaft, die Warnsignale nicht zur Kenntnis nimmt. Es ist eine Feuerwehrgesellschaft, die nur in Bekämpfungsstrategien denkt, nicht in Prävention. Ein politisches System geht nicht von heute auf morgen kaputt, es gibt eine Inkubationszeit. Die Warnsignale sind deutlich.“

 

Franzens Wilde, die Herzkirsche, die dauerhafte Sorte, soll jetzt wieder gezüchtet werden. Sie wächst nur noch hier, am Gut Gödelitz.

Karin Großmann