Döbelner Anzeiger – Ermittler haben Fehler gemacht – aber nicht versagt

Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm spricht im Ost-West-Forum über die Verfolgung von NS-Verbrechern

Gödelitz

11.04.2011 von Dagmar Doms-Berger

Hat die Bundesrepublik bei der Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen versagt? Diese Frage stand über dem Vortrag von Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm am Sonnabendabend im Ost-West-Forum Gut Gödelitz. Schrimm ist Leiter der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg, kurz: „Zentrale Stelle“. Schrimm lieferte den Zuhörern Fakten, mit denen eine Bewertung der Nazi-Verfolgung in der Bundesrepublik möglich war. Einen Vergleich mit der Nazi-Strafverfolgung in der DDR sparte er aus. Nach Schrimms Einschätzung wurden bei der Nazi-Verfolgung Fehler gemacht, als Versagen könne dies jedoch nicht gewertet werden.

Kurt Schrimm hatte damals selbst gegen den Nazi Josef Schwammberger ermittelt und ihn sechs Tage hintereinander vernommen. Schwammberger war SS-Oberscharführer und von 1942 bis 1944 Kommandant von SS-Zwangsarbeitslagern – Herr über Leben und Tod. Die Brutalität des Rassenfanatikers kannte keine Grenzen. Er riss Müttern die Babys aus den Händen, um sie anschließend an die Wand zu werfen. Seine Flucht begann 1948 und endete 1987 in Argentinien, nachdem ein bis heute unbekannter Informant der deutschen Botschaft einen Tipp über den Aufenthalt Schwammbergers gegeben hatte. Die Gegenleistung betrug 500000 Mark. Argentinien lieferte ihn 1990 aus. Schwammberger wurde 1992 wegen Mordes und Beihilfe zum Mord zu lebenslanger Haft verurteilt. Reue habe er zu keinem Zeitpunkt gezeigt, erinnert sich Schrimm. In den ganzen 30 Jahren seiner Tätigkeit habe er bei keinem Täter Schuldgefühle erlebt.

Nazi-Größen wie Schwammberger konnten nach dem Krieg in fast allen Bereichen wieder Fuß fassen. Kein einziger Nazi-Richter und -Staatsanwalt ist je für seine Arbeit bestraft worden. Die deutschen Behörden haben die Verurteilungen der Alliierten nicht anerkannt. Folglich sind sie nicht ins Strafregister eingetragen worden. Die Verurteilten galten als nicht vorbestraft und bekamen ihre Beamtengehälter oder -pensionen weiterhin.

Nach 1945 herrschte in der Bundesrepublik und der westlichen Hemisphäre der Zeitgeist der Schlussstrich-Mentalität. „Die Mehrheit der Bevölkerung wollte vom Krieg nichts mehr wissen“, so Schrimm. Juristische Verfahren gegen Kriegsverbrecher stießen auf völliges Unverständnis bis hin zur Ablehnung. Hinzu kam 1952 der Überleitungsvertrag zwischen der Bundesrepublik und den drei Besatzungsmächten. Dieser verbot den deutschen Gerichten, Straftaten zu verfolgen, die von den Alliierten bereits abgeschlossen wurden. Damit wollten die Siegermächte verhindern, dass Deutschland ihre Verurteilungen aufhoben. Die Klausel hatte aber die absurde Folge, dass sämtliche Naziverbrecher, die von den Alliierten zum Teil nur milde bestraft oder gar auf freien Fuß gesetzt worden waren, weil damals das Beweismaterial nicht reichte, endgültig frei kamen.

Mit dem Deutschland-Vertrag und der vollen Souveränität hätte die Bundesrepublik dann die Verbrechen verfolgen können. Dann aber beschloss der Bundestag in einem Ersten Gesetz zur Aufhebung des Besatzungsrechts, dass alle von den Besatzungsmächten gehemmten Verjährungsfristen zum 31. Dezember 1956 abgelaufen seien. Damit waren sämtliche Straftaten aus dem Dritten Reich außer Mord und Totschlag verjährt, bevor sie verfolgt werden konnten. Erst als Mitte der sechziger Jahre sogar die Verjährung der Mordtaten des Dritten Reichs bevorstand und damit die Möglichkeit für Mengele, Barbie und weitere in Lateinamerika Untergetauchte zurückzukehren, beschloss der Bundestag gegen den erbitterten Widerstand des Bundesjustizministeriums, dass die Berechnung der Verjährungsfristen erst 1950 beginnen solle. Inzwischen gab es auch ein Umdenken in der deutschen Öffentlichkeit, die durch den Jerusalemer Eichmann-Prozess (1960) und den Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963/64) aufgerüttelt worden war.