Buchvorstellung von Jo Goll: Ehrenmord: Ein deutsches Schicksal

Veranstaltung am 12.5.2012

Am 7. Februar 2005 wurde in Berlin auf offener Straße eine junge Frau erschossen – von ihrem eigenen Bruder. Sie habe gelebt wie eine Deutsche – ohne Ehre. Die Ordnung in der Familie habe er wiederher-stellen müssen, erklärte der junge Mann später vor Gericht. Tatsächlich hat die kurdisch-türkeistämmige Hatun Sürücü wie eine Deutsche gelebt. Sie war längst eine Deutsche. Sie hat sich hier wohl gefühlt. Sie hatte einen deutschen Pass und ihr war gelungen, wovon viele junge Frauen aus muslimischen Familien träumen: Ein eigenes, selbstbestimmtes Leben zu führen. Mit Freunden, einer eigenen Wohnung, einem Ausbildungsplatz und frei verfügbarer Zeit.
Diese Art zu leben konnte die aus Ostanatolien stammende – aber seit langen Jahren in Berlin lebende – Familie nicht akzeptieren. Hatun musste sterben. Dass nicht nur der 18jährige Bruder Täter war, sondern zumindest auch ein Teil der Familie dies so beschlossen hatte, war am Ende auch die Überzeugung des Gerichts.Dieser Ehrenmord hatte die deutsche Öffentlichkeit schockiert und aufgerüttelt. Wieder einmal wurde deutlich, dass die Integration von Migranten in die deutsche Mehrheitsgesellschaft sehr unterschiedlich gelungen ist, dass Teile der in Deutschland lebenden Türkeistämmigen in einer Parallelgesellschaft leben und sich den Traditionen ihrer bäuerlichen Heimat stärker verpflichtet fühlen als den Normen und Werten ihrer deutschen Wahlheimat.Die beiden ARD-Journalisten Matthias Deiß und Jo Goll haben es geschafft, die Mauer des Schweigens, hinter der sich Familie und Freunde versteckt hatten, zu überwinden und sie zum Sprechen zu bringen. Nicht in BILD-Zeitungs-Manier. Vorsichtig und einfühlsam bewegten sie sich auf diesem fremden Terrain, Gründe und Hintergründe der Tat wollten sie herausfinden und uns vor allzu schnellen Pauschalurteilen bewahren. Das ist ihnen auf eine bewundernswerte Weise gelungen – mit ihrem Buch und dem anschließenden Film, der in der ARD ausgestrahlt wurde und ein großes Echo hervorgerufen hatte.Seit 2009 beschäftigt sich auch das Ost-West-Forum mit diesem Themenkomplex. Mit unseren Biografie-Gesprächen zwischen Deutschen und Türkeistämmigen haben wir auf unsere Weise begonnen, Brücken zu bauen, um das Wissen voneinander zu vertiefen und das Gestrüpp von Vorurteilen zu lichten. Dieses Gödelitzer Modell der Biografiegespräche wird mittlerweile in Berlin, Köln, Saarbrücken und Konstanz angewandt – mit großem Erfolg. Weitere Städte mit einem größeren Migrantenanteil sind in der Planung. Weil wir das Thema in seiner ganzen Komplexität behandeln wollen, haben wir Jo Goll zu einem Gespräch nach Gödelitz eingeladen.


 

zur Person:

Jo Goll, Jahrgang 1966, studierte Politologie, Geschichte und öffentliches Recht in Freiburg. Seit 1996 arbeitet er als Reporter und Fernsehredakteur für den rbb (früher SFB = Sender Freies Berlin) und als Autor für das Politmagazin KONTRASTE. Darüber hinaus ist er als Autor und Redakteur für ARDaktuell tätig. Seine Fernsehdokumentationen und – Reportagen wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Für seine jahrelangen Recherchen mit den Schwerpunkten Rechtsextremismus, Islamismus und Migrationspolitik erhielt er im Jahr 2009 den Journalistenpreis „Der lange Atem“. Im Jahr 2011 veröffentlichte er gemeinsam mit Co-Autor Matthias 3 Deiß das Buch „Ehrenmord – Ein deutsches Schicksal“. Parallel dazu wurde die Filmdokumentation „Verlorene Ehre – Der Irrweg der Familie Sürücü“ im ARD-Fernsehen ausgestrahlt.