Döbelner Allgemeine Zeitung – Entfesselter Kapitalismus als Katastrophe

Ehemaliger Daimler-Chef spricht auf Gut Gödelitz über die “Egorepublik Deutschland”, von Dirk Wurzel, 23.06.2014

Gödelitz. Mit Edzard Reuter erlebten die Gäste des Ost-West-Forums auf Gut Gödelitz am Freitag nach Gesine Schwan einen weiteren starken Appell für Europa. Für ein Europa ohne deutsche Hegemonie wohlgemerkt. Der ehemalige Industriekapitän, Edzard Reuter stand von 1987 bis 1995 als Vorstandsvorsitzender an der Spitze der Daimler-Benz AG, setzte sich für die Vereinigten Staaten von Europa ein. Das müsse als Fernziel der europäischen Politik stehen. “Seit der Wahl ist dieses Ziel in weite Ferne gerückt”, sagte Edzard Reuter. “Die Bundeskanzlerin und Herr Schäuble haben sich in der Bewältigung der bisherigen Europakrise erfolgreich durchgewurstelt”, nannte er als Fazit seines Buches “Egorepublik Deutschland. Wie uns die Totengräber Europas in den Abgrund reißen.”
Edzard Reuters biografische Prägung geht über seine bekannteste Funktion als Mercedes-Chef hinaus. Der 1928 in Berlin geborene flüchtet 1935 vor den Nazis in die Türkei. Die Familie kehrt 1946 nach Berlin zurück, wo Edzards Reuter Vater Ernst zunächst sozialdemokratischer Oberbürgermeister und dann regierender Bürgermeister von Berlin wird. Edzard Reuter studierte zunächst Mathematik und Physik und später Jura in Göttingen und Berlin. Er arbeitete bis 1964 in der Filmindustrie und danach bei der Daimler-Benz AG. Hier betrieb er in seiner Zeit als Vorstandsvorsitzender den Umbau des Konzerns zum europäischen Technologie-Unternehmen, setzte sich für eine Unternehmensphilosophie ein, in der sich Daimler-Benz den Aktionären, der Belegschaft und der Umwelt gleichranging verantwortlich fühlen sollte. Seine Nachfolger drehten das zugunsten der einseitigen Verpflichtung gegenüber den Aktionären zurück. Airbus als europäischer Flugzeugbauer ist eines der Überbleibsel des Wirkens von Edzard Reuter an der Mercedes-Spitze. Was ihn von manchen der heutigen, gier- und renditegeleiteten Menschen an Unternehmensspitzen unterscheidet, ist die Verbindung eines liberalen Geistes mit sozialer Verantwortung: Freihandel ist gut, schön und notwendig, sagte Edzard Reuter im Diskussionsteil seines Auftrittes auf Gut Gödelitz. Aber bitte nicht ohne eine einheitliche europäische Sozialgesetzgebung. “Alles andere führt zu einem entfesselten Kapitalismus und das führt zur Katastrophe.” Das künftige vereinte Europa müsse frei vom Einfluss national denkender Politiker, Bankiers und Bürokraten sein, führte Edzard Reuter am Freitag auf Gut Gödelitz aus. Es brauche zudem eine einheitliche EU-Steuerpolitik. Den Vorteil einer starken, einheitlich agierenden EU verdeutlichte Edzard Reuter am Beispiel von Google. “Nur eine gemeinsame europäische Politik kann die Riesenmacht eines solchen Dienstleistungskonzerns beschränken.” In seinem Buch geht er auch auf die geschichtlichen Umstände ein, die Politiker nach dem zweiten Weltkrieg dazu trieb, europäische Vereinigungs- und Versöhnungspolitik zu betreiben. “Krieg, Eroberung Völkermord und Raubzüge prägten das Leben der Europäer.”
Die Vereinigten Staaten von Europa (VSE) als Endziel des europäischen Vereinigungsprozesses seien natürlich noch Zukunftsmusik, sagte Edzard Reuter. Und wies auf die Unterschiede hin, die im Vergleich zum politischen Modell der Vereinigten Staaten von Amerika bestehen: Die USA hatten Gründerväter, die den VSE (oder USE – United States of Europe) natürlich fehlen. Gleichwohl vergingen in den USA seit ihrer Gründung 1776 elf Jahre, bis sich dieser neue Staat eine Verfassung gab. Eine europäische Verfassung scheiterte übrigens immer wieder an Volksabstimmungen in einzelnen Mitgliedsländern.