Egorepublik Deutschland: Wie uns die Totengräber Europas in den Abgrund reißen

Veranstaltung am 21. Juni 2014

Hatten wir nicht gerade den Präsidenten der Europäischen Kommission gewählt? Erstmals, so glaubten wir, wird dieser wichtige Posten nicht im Rat der Regierungschefs und Präsidenten hinter verschlossenen Türen ausgekungelt, sondern europaweit in 28 Staaten der EU auf eine aufwendige Weise gewählt. Jean Claude Junker, der Kandidat der konservativen Parteien, machte das Rennen – ein überzeugter Europäer, der die politische Einigung Europas will. Und damit hat er ein Problem: Die Ministerpräsidenten Großbritanniens, der Niederlande, Schwedens und Ungarns lehnen diesen Kandidaten ab: Zu europäisch und – das kann unterstellt werden – wegen seiner starken demokratischen Legitimierung ein unangenehmes Stück zu unabhängig.

Die Arroganz der Macht, die in dieser Haltung zum Ausdruck kommt, stößt nicht nur das europäische Wahlvolk vor den Kopf. Auch die Mehrheit der gerade gewählten 751 Abgeordneten des Europäischen Parlaments in Straßburg, die den Kandidaten bestätigen muss, wird einen anderen Kandidaten kaum akzeptieren. Man kann auf die kommende Auseinandersetzung zwischen Rat und Kommission gespannt sein.
Nun haben solche Interessengegensätze in Europa Tradition. Fast jeder Schritt nach vorne wurde von Auseinandersetzungen begleitet. Die spielten sich aber meist hinter verschlossenen Türen ab – die Wähler Europas blieben distanziert, sieht man einmal von den frühen Nachkriegsjahren ab. Jetzt aber, mit der durch die Bankenkrise erzeugten Finanzkrise im Euro-Raum, spitzt sich der Streit zwischen Föderalisten und Funktionalisten zu und erreicht die europäische Öffentlichkeit: Kann eine gemeinsame Währung ohne eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik funktionieren? Nein, sagen die einen und fordern eine Vertiefung der Integration und damit die Aufgabe von Souveränitätsrechten der beteiligten Staaten. Fernziel: Die Vereinigten Staaten von Europa. Funktionalisten wollen es möglichst nur bei einer Freihandelszone belassen. Wieder andere wollen ganz raus aus der Europäischen Union, zurück in die nationale Kleinstaaterei.
Mit Edzard Reuter haben wir einen überzeugten Europäer eingeladen, der das europäische Projekt auch aus dem Blickwinkel der Wirtschaft analysiert und eine gesicherte Zukunft für uns und unsere Nachkommen nur in den Vereinigten Staaten von Europa sieht. Dafür steht er, dafür setzt er sich in seinem jüngsten Buch ohne Einschränkung ein. Dabei plädiert er auch für eine Transferunion, für die Solidarität mit jenen, die von der Krise besonders betroffen sind – ist sich aber bewusst, dass es in der Politik kaum noch Persönlichkeiten gibt, die glaubwürdig und ehrlich genug sind, zuzugeben, dass die Eurozone bereits alle Merkmale einer Transferunion trägt und die fähig sind, eine breite Öffentlichkeit für Europa zu begeistern.
Der neoliberale Zeitgeist, geprägt von Gier, kleinkariertem Egoismus und rückwärtsgerichtetem  Nationalismus, tut ein Übriges. Aber ohne ein vereintes Europa, das macht Edzard Reuter sehr deutlich, haben wir im globalisierten Wettbewerb keine Chance.

Videodokumentation: Egorepublik Deutschland: Wie uns die Totengräber Europas in den Abgrund reißen


 

Zur Person:

Edzard Reuter 2

 

Edzard Reuter wurde 1928 in Berlin geboren. Nach der „Machtergreifung“ durch die Nationalsozialisten emigrierte die Familie 1935 in die Türkei, wo Edzard Reuter seine Jugendjahre verbrachte und zu der er heute noch enge Verbindungen hält. 1946 kehrte die Familie nach Berlin zurück, wo der Vater, Ernst Reuter, zunächst Oberbürgermeister und ab 1. September 1950 Regierender Bürgermeister von Berlin wurde. Der Sohn studiert zuerst Mathematik und Physik, später Jura in Göttingen und Berlin. Nach einer Tätigkeit in der Filmindustrie holte ihn Hanns Martin Schleyer 1964 zu Daimler-Benz, wo er 1976 Vorstandsmitglied wurde und von 1987 bis 1995 Vorstandsvorsitzender war.

Dort bekennt er sich zu einer ungewöhnlichen Unternehmenskultur: Daimler-Benz soll sich gleichrangig gegenüber den Kapitalgebern, gegenüber der Belegschaft und gegenüber der Umwelt verantwortlich fühlen und danach handeln. Weil der Konzern wegen des Umbaus zu einem Technologiekonzern hohe Verluste einfährt, muss Reuter 1995 zurücktreten.
Im selben Jahr 1995 gründete er mit seiner Frau die „Helga und Edzard Reuter-Stiftung“, die als gemeinnützige Stiftung die Völkerverständigung fördert, dem friedlichen Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher ethnischer, religiöser oder kultureller Herkunft in der Bundesrepublik dienen und damit die Integration unserer Gesellschaft voranbringen soll.
1998 wurde Edzard Reuter Ehrenbürger in Berlin.
Er lebt heute mit seiner Frau in Stuttgart und Berlin.