Deutsch-Polnische Vergleichsforschungen

Das Projekt “Erinnerungskultur” in Deutschland und in Polen:

Polnische und deutsche Wissenschaftler sind eingeladen, am Projekt mitzuwirken.

„Erinnerungskultur” ist seit einigen Jahren ein in den wissenschaftlichen Forschungen diverser geistes- und sozialwissenschaftlicher Disziplinen präsenter Begriff: in Kulturwissenschaft, Geschichte, Literaturwissenschaft, Psychologie, Soziologie u.a. Zur „Erinnerungskultur“ gehören verschiedene Formen des Umgang mit der Vergangenheit und deren Wiedergabe sowohl durch die Individuen (z.B. in Augenzeugenberichten, in Erinnerungen und Tagebüchern) als auch durch Institutionen (z.B. in Form von Geschichtslehrwerken, Gelegenheitspublikationen, Museumstätigkeit). „Erinnerungskultur” äußert sich im kollektiven Bewusstsein, in Vergangenheitspolitik und Geschichtskultur. All diese Begriffe beziehen sich auf den Umgang der Individuen und Kollektive mit der Vergangenheit, insbesondere mit der Zeitgeschichte, die Teil des Gedächtnisses der Menschen ist.

Deutsche und Polen sehen ihre jüngste Vergangenheit unterschiedlich, denn ihre Geschicke sind sehr verschieden. Obwohl sie seit über tausend Jahren Nachbarn sind, unterscheiden sie sich in vielerlei Hinsicht: in ihren Sprachen, in denen es aber auch Entlehnungen gibt (zahlreiche Germanismen im Polnischen, vereinzelte Polonismen im Deutschen); in ihren Sitten und Bräuchen (obgleich die Unterschiede in diesem Bereich mitunter gar nicht so groß sind oder so gut wie nicht vorhanden sind); in ihrer politischen Ordnung (z.B. dem Bestehen eines zentralisierten Königreichs Polen und eines aus einigen hundert selbständigen Territorialstaaten zusammengesetzten Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation); in einer unterschiedlichen Religiosität infolge der Zugehörigkeit zu diversen Strömungen des Christentums (z.B. die Dominanz der katholischen Religion in Polen und der konfessionelle Pluralismus nach der Reformation in Deutschland); in der sozialen Struktur und der sich daraus ergebenden nationalen Kultur beider Völker (dem Übergewicht des bürgerlichen und seinerzeit auch des proletarischen Elements in Deutschland und des adeligen und bäuerlichen in Polen). Dies sind nur einige ausgewählte Bereiche der Kultur, in denen die Unterschiede zwischen Deutschen und Polen bis heute sichtbar sind, obwohl es zwischen ihnen auch Ähnlichkeiten gibt.

Die Erforschung des Einflusses dieser Unterschiede, Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten auf die „Erinnerungskultur“ ist eine der zu bewältigenden Aufgaben im Rahmen eines hier vorgestellten Projekts, das seit Mitte 2015 zur Durchführung vorbereitet wird. Das Wissen um die Kulturunterschiede, die sich aus unterschiedlichen historischen Erfahrungen ergeben, kann zur Klärung und Deutung bestimmter Phänomene auch aus der jüngsten Vergangenheit beitragen, auf die sich die Untersuchungen zur „Erinnerungskultur“ beziehen. Es seien hier z.B. die Einstellung der Deutschen und Polen zum Zweiten Weltkrieg und zur Nazibesatzung genannt – die einen und die anderen spielten in jener Zeit sehr unterschiedliche Rollen; die Zeit der Vertreibungen und Umsiedlungen von Menschen beider Nationalitäten aus ihren ehemaligen Ostgebieten – Ähnlichkeiten und Unterschiede bei der Durchführung dieses unmenschlichen Prozedere; Wege und Mittel zur Einführung und Festigung der sozialistischen Ordnung in der Volksrepublik Polen und in Ostdeutschland sowie die Einstellung der Bewohner beider Länder gegenüber diesen Vorgängen, aber auch gegenüber dem gesellschaftlichen und politischen System in der VRP und in der DDR; die Entnazifizierung in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg und die Entkommunisierung in Polen nach 1989 und in Deutschland nach der Wiedervereinigung. Das sind Fragen, die teilweise bereits untersucht worden sind und auch aus Literatur, Publizistik und Film bekannt sind, die aber alle auch aus vergleichender Sicht erörtert werden sollten.

Die Forschungen zu den oben genannten Fragen sind Gegenstand wissenschaftlicher Interessen und von Publikationen in beiden Ländern, allerdings zumeist ohne Berücksichtigung der Perspektive der jeweils anderen Seite. Diese Lücke sollten parallel in beiden Ländern geführte vergleichende Untersuchungen schließen. Zwar können sie separat von deutschen und polnischen Wissenschaftlern geführt werden, aber deren Zusammenarbeit kann die Forschungshorizonte um bislang von der einen oder anderen Seite übergangene Phänomene erweitern. Darüber hinaus kann eine solche Zusammenarbeit dazu beitragen, dass eine Ebene des Verständnisses für die jeweiligen Standpunkte gefunden wird, dass Gemeinsamkeiten ermittelt werden und dass es anschließend zur gegenseitigen Verständigung kommt.

Vergleichende Untersuchungen sollten über solche Fragen Aufschluss geben wie: Einfluss der jüngsten Vergangenheit auf die gesellschaftlichen Einstellungen der Menschen in beiden Ländern (inwiefern determiniert Geschichte das Denken und Handeln der Menschen?); Art und Weise des Umgangs mit Geschichte (in Literatur, Publizistik, Film); Einfluss der Massenmedien auf die Einstellungen der Menschen gegenüber der Vergangenheit und ihre Reaktionen auf Herausforderungen im Zusammenhang mit politischen und medialen Aktivitäten (z.B. auf Äußerungen von Politikern wie Erika Steinbach oder auf Filmaufführungen wie z.B. „Unsere Mütter, unsere Väter”).

Die Reflexion von Geisteswissenschaftlern und Sozialwissenschaftlern über die obigen und auch über andere Fragen, die von den zur Mitarbeit am Projekt eingeladenen Wissenschaftlern zur Erarbeitung vorgeschlagen werden, hat nicht nur großen erkenntnismäßigen, sondern auch praktischen Wert. Die Initiatoren des Projekts und seine Teilnehmer – Wissenschaftler unter anderem von der Universität Warschau und der Humanistischen Akademie „Aleksander Gieysztor“ in Pułtusku, ihre deutschen Partner wie auch Praktiker – Menschen verschiedener Berufe, die sich darüber Gedanken machen, was die gegenseitigen Beziehungen zwischen Deutschen und Polen determiniert, erwarten nicht nur, dass Wissen über die zu erforschenden Phänomene gesammelt, sondern dass es auch einem interessierten Publikum in Form von Veröffentlichungen zugänglich gemacht wird, gefolgt von Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit, die sich an Empfänger unterschiedlicher Altersgruppen in Deutschland und in Polen richtet. Dank dem Wissen über die untersuchten und der Öffentlichkeit erschlossenen Fragen und Phänomene soll es möglich sein, unter Deutschen und Polen, die in wechselseitigen Beziehungen zueinander stehen – z.B. in Wissenschaft, Geschäftsleben, Kultur – interkulturelle Kompetenz zu erreichen.

Die genannten Forschungen und die Erschließung von deren Ergebnissen für eine breite Öffentlichkeit in beiden Ländern sollte sukzessive von dem Forscherteam und den interessierten Praktikern geführt werden, für die außer dem Wissen auch dessen Popularisierung bedeutsam sein wird. Der praktische Aspekt sollte in den besagten Forschungen stets präsent sein. Die ersten Ergebnisse der Durchführung des Projekts, das für drei Jahre angelegt ist, sollten nicht nur in Form von Einzelveröffentlichungen der daran Mitwirkenden in wissenschaftlichen Zeitschriften, sondern auch in einer eigens für die Projektzwecke gegründeten Zeitschrift – zunächst in elektronischer Form – präsentiert werden. Letztendlich sollte ein Kompendium des Wissens über Erinnerungskultur in Deutschland und in Polen entstehen. Außerdem sollten Kurse und Schulungen in der besagten Problematik wie auch in Kulturunterschieden zwischen beiden Völkern geführt werden.

Projektleiter ist Prof. Tomasz G. Pszczółkowski vom Institut für Germanistik der Universität Warschau, unterstützt vom Generalsekretär des Interfakultären Zentrums für Deutschlandstudien an der Humanistischen Akademie „Aleksander Gieysztora“ in Pułtusk, Professor Karol Czejarek, der auch als Koordinator mitwirkt. Zur Mitarbeit am Projekt sind deutsche und polnische Wissenschaftler verschiedener geistes- und sozialwissenschaftlicher Disziplinen sowie Praktiker eingeladen. Interessenten sind gebeten, sich mit Vorschlägen ihrer Untersuchungsthemen unter der E-Mail-Adresse t.g.pszczolkowski@uw.edu.pl oder karolczejarek@uw.edu.pl zu melden

 

Warschau, Pułtusk und Gödelitz, 5. Dezember 2015