Vortrag von Prof. Egon Bahr: Die deutsch-amerikanischen Beziehungen nach dem Ende des Kalten Krieges

Veranstaltung am 25. Januar 2003:
Seit einiger Zeit ist eine zunehmende Entfremdung zwischen den USA und Europa, vor allem aber zwischen den USA und Deutschland spürbar. Das hat vielerlei Gründe. Für Deutschland mag gelten, dass mit dem Ende des Kalten Krieges und der Vereinigung beider deutscher Staaten die direkte Abhängigkeit von den USA schwächer geworden ist. Deutschland wurde ein souveräner Staat mit wachsendem Selbstbewusstsein. Und anders als die Amerikaner, die immer noch glauben, überlegene Waffenarsenale würden im Zweifelsfall alle potentiellen Bedroher in die Knie zwingen, haben die Deutschen ihre Lektion gelernt: Krieg als Mittel der Politik ist nur als ultima ratio denkbar. Der Kampf gegen den weltweiten Terrorismus wird unterstützt – nicht aber ein Präventiv-Krieg mit dem Ziel, den Diktator eines ölreichen Landes zu stürzen.
Zur Entfremdung trägt auch bei, dass die Bush-Regierung bei der Konzeption einer neuen Weltordnung auf die Interessen und Stimmungslagen ihrer westlichen Partner wenig Rücksicht nimmt. Ob sie den Atomwaffen-Sperrvertrag aufkündigt, das Toyota-Abkommen über die Reduzierung der weltweiten Umweltbelastung blockiert oder den Weltstrafgerichtshof in Den Haag bekämpft: Dieses rüde “Amerika first” stößt die Weltgemeinschaft vor den Kopf. Die kulturelle Hegemonie durch die USA kommt hinzu. Und die Tatsache, dass Bush – nach einer Phase von Desinteresse – nunmehr jeden Anschein einer neutralen Vermittlerrolle im Nahost-Konflikt aufgegeben hat und Ariel Sharon rückhaltlos unterstützt, verschärft das Unbehagen über seine Außenpolitik.
Wie sollte – wie kann die deutsche Regierung auf diese neue amerikanische Politik reagieren? Haben wir überhaupt einen Spielraum – oder sind die wirtschaftlichen, technologischen und militärischen Abhängigkeiten so groß, dass wir einlenken müssen – was immer wir auch denken mögen? Sind wir Satelliten der Vereinigten Staaten von Amerika? Können wir im Rahmen Europas ein eigenes ökonomisches und militärisches Gewicht erreichen – und damit eine größere Selbständigkeit erlangen? Kann Russland dieses Gewicht – das Gegengewicht – Europas verstärken? Gibt es einen steigenden Antiamerikanismus in Deutschland – im Osten womöglich stärker als im Westen?

Zur Person: Egon Bahr

Geboren 1922 in Treffurt/Thüringen. Schulzeit in Berlin. 1942 bis 1944 Soldat im Zweiten Weltkrieg. Nach 1945 arbeitet er als Journalist bei verschiedenen Zeitungen und zehn Jahre lang als Chefkommentator beim RIAS Berlin (Radio im amerikanischen Sektor). 1960 bis 1966 Senatssprecher und Leiter des Presse- und Informationsamtes unter dem Regierenden Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt.

In dieser Zeit entwickelte Bahr gemeinsam mit Willy Brandt die

Leitgedanken für die spätere neue Ostpolitik. Bahr wird zum Architekten der Verträge mit Russland, Polen und der DDR (“Wandel durch Annäherung”) sowie zum Vordenker und Strategen für die Beendigung des Kalten Krieges. Mit Beginn der Kanzlerschaft Willy Brandts wird er Staatssekretär und Bundesminister für besondere Aufgaben im Bundeskanzleramt in Bonn.

Nach dem Rücktritt Brandts wird Egon Bahr 1974 Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Von 1976 bis 1981 bekleidet Bahr das Amt des Bundesgeschäftsführers der SPD. Bis 1991 ist er Präsidiumsmitglied der Partei. Von 1984 bis 1994 leitet er das Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik in Hamburg.

Anlässlich seines 80. Geburtstages wird Egon Bahr die Ehrenbürgerwürde von Berlin verliehen.