Veranstaltung am 2. Oktober 2010
Vortrag und Diskussion mit Professor Dr. Jens Reich, Molekularbiologie, Arzt, Essayist und Bürgerrechtler
Denken wir zurück in das deutsche Schicksalsjahr 1989. Als die Menschen begannen, die Angst abzuschütteln, war das System am Ende. Gorbatschow veränderte die Sowjetunion, die Ungarn zerstörten die Stacheldrahtgrenze – zwei Grundpfeiler der DDR-Bürokratenherrschaft waren zerbrochen. Die Anzahl derer, die Wahlen kontrollierten, protestierten und demonstrierten nahm ständig zu, auch die Zahl der Flüchtlinge schwoll an. Mit der Maueröffnung konnten die Menschen endgültig ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen. Die Zeit der Runden Tische waren für die, die daran mitwirkten, die glücklichsten Tage ihres Lebens. Es war eine Zeit der Befreiung, des Aufbruchs, des offenen Horizonts – und des Nachdenkens über selbst gestaltete Zukunft. Über ein Gemeinwesen, in dem der Menschheitstraum von Demokratie, Gerechtigkeit und Gleichheit Wirklichkeit werden sollte.
Wenige die an diesem Aufbruch teilnahmen, wollten zurück in ein kapitalistisches System. Auch deshalb lehnte die kleine Gruppe der intellektuellen Gestalter mehrheitlich eine Vereinigung beider deutscher Staaten ab. Die Wahlen zum 18. März 1990 waren mit allen Mitteln westdeutscher Propaganda und Werbemittel geführt worden, die Mehrheit der Bevölkerung entschied sich für die Einheit, man wollte das System endgültig loswerden, wollte Teil der erfolgreichen Bundesrepublik werden.
Ehe also die Vorstellungen der Bürgerrechtler Gestalt annehmen konnten, hatte „das Bonner Nilpferd die Pflanze totgetreten“.
Der das sagte, hatte die DDR ebenfalls gründlich satt, lag als Wissenschaftler, als Bürger und als Vater dreier Kinder in ständigem Konflikt mit dem System und hatte sich in dem von ihm gegründeten Freitagskreis seit langen Jahren Gedanken gemacht, wie man die DDR zu einer Gesellschaft mit menschlichem Antlitz verändern könne: Der Molekularbiologe und Arzt Professor Dr. Jens Reich.
Waren dies nur Visionen oder aber fertige Konzepte, die auf ihre Umsetzung harrten, nachdem die politische Befreiung gelungen war? Waren sie auf der Grundlage dessen erdacht worden, was man in den 60er Jahren in der CSSR verwirklichen wollte: Sozialismus u n d Demokratie? Wenn dies so war – , warum dann die schnelle Resignation, der Rückzug ins Berufsleben, nachdem das Nilpferd losgestampft war?
Jens Reich hat sich nach der Vereinigung dennoch wieder in die Politik eingemischt – einmal sogar, 1994, als Kandidat von Bündnis 90/Die Grünen für das Amt des Bundespräsidenten. In Vorträgen, Interviews und als Kolumnist in der Wochenzeitschrift DIE ZEIT hat er immer wieder Stellung bezogen – vor allem wenn es um Themen der inneren Einigung Deutschlands ging. Aber Bitterkeit über zerstörte Chancen in der Wendezeit ist kaum zu erkennen. Gibt es sie dennoch? Wie sieht er den Zustand der Gesellschaft der Bundesrepublik heute? Ist das die Demokratie, die er sich einstmals erhofft hatte?
Wir freuen uns, dass wir Professor Jens Reich als Gast des ost-west-forums auf Gut Gödelitz begrüßen durften.
zur Person: Jens Reich
Geboren 1939 in Göttingen, aufgewachsen in Halberstadt. Studium der Medizin und der Molekularbiologie an der Berliner Humboldt-Universität. Assistenzarzt in Halberstadt, danach zusätzliche biochemische Facharztausbildung in Jena. Ab 1986 wissenschaftliche Arbeit am Zentralinstitut für Molekularbiologie der Akademie der Wissenschaften der DDR in Berlin-Buch. 1974/75 und 1979/80 Forschungsaufenthalt am Institut für Biophysik der sowjetischen Akademie der Wissenschaften in Puschtschino bei Moskau.
In dieser Zeit promoviert und habilitiert Jens Reich, ab 1980 arbeitet er als Professor für Biomathematik und Abteilungsleiter am Zentralinstitut für Molekularbiologie in Berlin-Buch. Wegen seiner Weigerung, Westkontakte abzubrechen und in eine Blockpartei einzutreten, verlor er 1984 den Abteilungsleiterposten und wurde zum wissenschaftlichen Mitarbeiter zurückgestuft. in dem von ihm 1970 gegründeten Freitagskreis setzte er sich mit Freunden kritisch mit den Verhältnissen in der DDR auseinander – und wurde schon deshalb von der Staatssicherheit systematisch überwacht. Im September 1989 war er einer der Autoren und Erstunterzeichner des „ Aufbruch 89 – neues Forum“, der zur Gründung des neuen Forums führte. Am 4. November war Jens Reich einer der Redner auf der größten Demonstration der Wendezeit auf dem Alexanderplatz in Berlin. Er arbeitete an runden Tischen mit, war Volkskammerabgeordneter nach den ersten freien Wahlen am 18. März 1990 und später, nach der Vereinigung, noch zwei Monate Bundestagsabgeordneter in Bonn. Danach zog sich Jens Reich aus der aktiven Politik zurück und kehrte wieder an seinen alten Arbeitsplatz – als Abteilungsleiter – zurück.
Nach einem Forschungsaufenthalt in den USA und einer anschließenden Gastprofessur am deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg wurde er zum Forschungsgruppenleiter am Max-Delbrück-Centrum für molekulare Medizin in Berlin berufen. Dort beschäftigte er sich bis zu seiner Emeritierung im Jahre 2004 mit der Genom-Forschung. Ins Rampenlicht einer breiten Öffentlichkeit trat Jens Reich noch einmal, als er 1994 vom Bündnis90/die Grünen als Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten vorgeschlagen wurde. Professor Reich erhielt zahlreiche Ehrungen und bezieht bis heute in den Medien – u.a. in Der Zeit – zu politischen und ethischen Fragen Stellung. Er ist u.a. Mitglied des nationalen Ethikrats und des Kuratoriums des ost-west-forums gut gödelitz e.V.