Veranstaltung mit Kurt Schrimm: Das rechte und das linke Auge Hat die Bundesrepublik bei der Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen versagt?

Wurde da nach dem 8. Mai 1945 einfach nur ein Schalter umgelegt und der nette und hilfsbereite Nachbar von nebenan kam zum Vorschein? Ginge es nur um Schwammberger, könnte man von einem Psychopathen sprechen und den Fall der Wissenschaft zur weiteren Untersuchung überlassen. Aber dieser „Schalter“ wurde offenbar bei Tausenden auf die eine oder andere Weise umgelegt. In nahezu allen Bereichen der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft konnten Alt-Nazis wieder Fuß fassen und ihren schützenden Einfluss ausüben.
Die Richter und Staatsanwälte des Volksgerichtshofes, verantwortlich für 5243 Todesurteile – Verbrecher? Keiner wurde zur Rechenschaft gezogen, die meisten konnten in der jungen Bundesrepublik wieder in ihren alten Berufen oder anderswo im Staatsdienst unterkommen. Die Verbrechen der Wehrmacht wurden über Jahrzehnte nicht angetastet – obwohl auch sie an Massenerschießungen beteiligt und in der Endphase des Krieges für etwa 50 000 standrechtlich vollstreckte Todesurteile gegen eigene Soldaten verantwortlich war. Und die vielen anderen Schreibtischtäter bei der SS im Reichssicherheitshauptamt und anderen NS-Organisationen – als Kriminelle wären sie nach dem Krieg vermutlich niemals aufgefallen. Sind das die zwei Seelen in unserer Brust, deren dunkler Teil je nach Umständen aktiviert werden kann?
Natürlich war mit dem Ausbruch des Kalten Krieges und einer tief verwurzelten antikommu-nistischen Grundhaltung breitester Bevölkerungskreise das Bedürfnis nach einem Schlussstrich weit verbreitet. In den Nürnberger Prozessen hatte man ja die Hauptverantwortlichen zur Rechenschaft gezogen, nun waren die Probleme des staatlichen und wirtschaftlichen Wiederaufbaus wichtiger. Befehlsnotstand und „kann denn heute unrecht sein, was früher rechtens war“(Filbinger) gab den Menschen, die in NS-Verbrechen verstrickt waren, das Gefühl, keine Schuld auf sich geladen zu haben.
Dennoch gab es einige mutige Menschen, die sich gegen die öffentliche Meinung stellten und dafür sorgten, dass NS-Verbrecher zur Verantwortung gezogen wurden. Die DDR lieferte mit ihrem „Braunbuch“ belastendes Material, dem man sich nicht immer entziehen konnte. In dem Ulmer Prozess gegen SS-Einsatzkommandos 1958 wurde die Breite der noch unaufgeklärten Verbrechen offenbar – unter dem Druck eines Teils der Medien und einer internationalen Öf-fentlichkeit wurde noch im Herbst desselben Jahres die „Zentrale Stelle der Landesverwaltungen zur Aufklärung Nationalsozialistischer Verbrechen“ in Ludwigsburg ins Leben gerufen. Wenig später folgten die Frankfurter Auschwitz-Prozesse, die vor allem die jüngere Generation aufwühlten. Parallel dazu sorgten „alte Kameraden“ immer wieder für Verjährungen, Amnes-tien, milde Urteile oder Freisprüche sowie Gesetzesänderungen, die ganze Bereiche von NS-Verbrechen von weiterer Verfolgung befreiten.
Umstritten blieb und bleibt die Frage, welche Taten als Straftaten zu bewerten sind und wie eng oder weit der Kreis der zu Verfolgenden gezogen werden soll. Schließlich sind viele ehemals überzeugte Nazis später gute Demokraten geworden. Oder anders ausgedrückt: Sollten wir, statt vergangene Verbrechen ausufernd zu ahnden, nicht lieber darauf achten, die Ursachen für radikale Strömungen im Hier und Jetzt frühzeitig zu bekämpfen? Angst und Anpassung gehen Hand in Hand – und dem anderen Teil unserer Seele ist nicht zu trauen.

Mit dem Leiter der „Zentralstelle“ in Ludwigsburg, Kurt Schrimm, haben wir einen der wichtigsten Experten auf diesem Gebiet als Referenten und Gesprächspartner eingeladen.


 

Zur Person Kurt Schrimm:

Kurt Schrimm, geboren am 29.06.1949 in Stuttgart, besucht von 1960 bis 1968 das Hegel-Gymnasium in Stuttgart Vaihingen. Nach seinem Abitur absolviert er von 1968 bis 1971 eine Ausbildung zum Diplom-Finanzwirt (FH). Im Anschluss studiert Kurt Schrimm von 1971 bis 1976 Rechtswissenschaften an der Universität Tübingen. 1976 legt er das Erste Juristische Staatsexamen ab. Von 1977 bis 1979 ist er Rechtsreferendar beim Landgericht in Stuttgart. Im Juni 1979 folgt das Zweite Juristische Staatsexamen. Von August 1979 bis September 1981 ist er Staatsanwalt bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart. Anschließend ist Kurt Schrimm von Oktober 1981 bis August 1982 Richter am Landgericht Stuttgart. Von 1982 bis 2000 ist er bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart tätig. Am 27. November 1998 wird er zum Oberstaatsanwalt benannt. Seit Oktober 2000 ist Kurt Schrimm Leiter der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltung zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen. Am 08. Juli 2009 erfolgt seine Benennung zum Leitenden Oberstaatsanwalt. Kurt Schrimm ist verheiratet und hat zwei Kinder.