Gespräch mit Prof. Dr. Egon Bahr und Prof. Dr. Lothar Bisky: Der Rechtsstaat ist kein Rachestaat

Veranstaltung am 1. Oktober 2011

In der ersten Jahreshälfte 2009 tobte in Berlin eine Art Religionskampf: in einem Volksbegehren wurde die Einführung einer Wahlpflicht gefordert, der zufolge sich Schüler entweder für Ethik- oder Religionsunterricht entscheiden sollten. Der Humanistische Verband Deutschlands, Landesverband Berlin, mit seinem Vorsitzenden, Dr. Bruno Osuch, hatte sich einem breiten Bündnis für die Beibehaltung des gemeinsamen Unterrichtsfaches Ethik angeschlossen. Mitten in dieser bitteren Auseinandersetzung wurde Dr. Osuch plötzlich von der Springer-Presse und später auch von der FAZ beschuldigt, in den 70er und 80er Jahren als Mitglied der bundesrepublikanischen Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) von der Stasi zum lautlosen Töten mit der Waffe ausgebildet worden zu sein.
Die Informationen war den Medien von der Birthler-Behörde zugespielt worden. Die Akten lagen dort seit 20 Jahren im Archiv. Jetzt schien der richtige Zeitpunkt gekommen zu sein, sich auf diese Weise in die Kampagne einschalten – nach der Formel: Pro-Ethik ist Pro-Stasi. Dr. Osuch zog vor die Gerichte – und er hat überall Recht bekommen. Alle Zeitungen wurden gegen eine hohe Strafandrohung dazu verurteilt, diese haltlosen Beschuldigungen zu unterlassen.
Ist die Stasi-Unterlagenbehörde eine politische Kampforganisation? Ist der Eindruck richtig, dass sie immer wieder einmal Namen in die Öffentlichkeit fließen lässt, wenn ihr eine bestimmte politische Richtung nicht passt? Wurde sie nicht besonders aktiv, als in Brandenburg eine rot-rote Regierung installiert wurde? Ist der Schriftsteller Stefan Heym, ein bekanntes Stasi-Opfer, nicht plötzlich ein der Stasi-Mitarbeit Verdächtiger geworden, als er für die PDS in den Bundestag einzog? Die Mitteilung an den Bundestag kam aus der Gauck-Behörde und provozierte einen Skandal im Plenum des Hohen Hauses.

Ist es richtig, an die Spitze dieser Behörden Menschen zu wählen, die in der DDR Opfer der Stasi waren? Wäre es nicht angemessener, diese Behörde einem trockenen Juristen anzuvertrauen, der das Gesetz ohne Emotionen anwendet? Ist nicht ein wichtiger Grundsatz des Rechtsstaates, dass Opfer niemals Richter sein dürfen? Hat die Stasi-Unterlagenbehörde nicht faktisch eine richterliche Funktion? Kann sich jemand, der keine Organisation und starke politische Freunde hinter sich weiß, wehren, wenn er als Informeller Mitarbeiter in den Medien auftaucht? Wird in der Behörde Belastendes und Entlastendes von einem geschulten Richter bewertet, wenn Stasi-Vorwürfe, die Menschen samt ihren Familien ins Unglück stürzen können, in die Medien lanciert werden? Im Normalfall haben sie kaum eine Chance, sich zu wehren.
Die DDR hat massive Menschenrechtsverletzungen zu verantworten. Das darf nicht verschwiegen werden – aus Respekt vor den Opfern und um daraus Lehren zu ziehen. Aber der Rechtsstaat ist kein Rachestaat. Der Rechtsstaat hat aus guten Gründen die Institution der Verjährung eingerichtet. Sollte man Menschen, die 21 Jahre nach der staatlichen Vereinigung sich völlig korrekt verhalten haben, immer noch verfolgen?
Fragen über Fragen. Wer sie so stellt, macht sich in den Augen einer bestimmten Gruppe verdächtig – entweder er will die Stasi banalisieren, will Schuldige reinwaschen oder aber er ist einfach ein verkappter DDR-Nostalgiker. Eine ruhige, abwägende Diskussion ist kaum möglich – das Thema ist angstbesetzt, kaum jemand wagt sich, solche Fragen öffentlich aufzuwerfen.
Wir haben zwei Persönlichkeiten aus Ost und West eingeladen, sich dieser Fragen einmal zu stellen. Persönlichkeiten, die von Alter und Status nicht mehr auf Beifall angewiesen sind, die nicht ängstlich auf die Reaktion des Publikums schielen werden. Wir danken Egon Bahr und Lothar Bisky, unsere Einladung angenommen zu haben.


 

zur Person: Prof. Dr. H.C. Egon Bahr,

geboren 1922 in Treffert/Thüringen. Schulzeit in Berlin. 1942 bis 1944 Soldat im zweiten Weltkrieg. Nach 1945 arbeitet er als Journalist bei verschiedenen Zeitungen und zehn Jahre lang als Chefkommentator beim Rias Berlin (Radio im amerikanischen Sektor). 1960 bis 1966 Senatssprecher und Leiter des Presse- und Informationsamtes unter dem regierenden Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt.

In dieser Zeit entwickelte Bahr gemeinsam mit Willy Brandt die Leitgedanken für die spätere neue Ostpolitik. Bahr wird zum Architekten der Verträge mit Russland, Polen und der DDR (“Wandel durch Annäherung”) sowie zum Vordenker und Strategen für die Beendigung des kalten Krieges. Mit beginn der Kanzlerschaft Willy Brandts wird er Staatssekretär und Bundesminister für besondere Aufgaben im Bundeskanzleramt in Bonn.

Nach dem Rücktritt Brandts wird Egon Bahr 1974 Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Von 1976 bis 1981 bekleidet Bahr das Amt des Bundesgeschäftsführers der SPD. Bis 1991 ist er Präsidiumsmitglied der Partei. Von 1984 bis 1994 leitet er das Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik in Hamburg.

Anlässlich seines 80. Geburtstages wird Egon Bahr die Ehrenbürgerwürde von Berlin verliehen.

 

zur Person: Prof. Dr. Lothar Bisky,

geboren 1941 in Zollbrück /Pommern, aufgewachsen in Brekendorf/Schleswig-Holstein. 1959 ging er als 18-jähriger allein in die DDR, da ihm nach seiner Aussage das Ablegen des Abiturs in der Bundesrepublik aufgrund der finanziellen Verhältnisse seiner Familie nicht möglich war. Nach dem Abitur in der DDR studierte er von 1962-1963 Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin und von 1963-1966 Kulturwissenschaften an der Karl-Marx-Universität in Leipzig. Nach Abschluss des Studiums arbeitete er als Diplom-Wissenschaftler zunächst als wissenschaftlicher Assistent, dann, von 1967-1980 als wissenschaftlicher Mitarbeiter und später als Abteilungsleiter im Zentralinstitut für Jugendforschung in Leipzig.

1969 erfolgte die Promotion, 1975 die Habilitation an der Universität Leipzig. 1979 nahm er einen Ruf der Humboldt-Universität als Honorarprofessor an und arbeitete anschließend von 1980-86 als Dozent an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED.

1986 erfolgte der Ruf als ordentlicher Professor für Film und Fernsehwissenschaft an der Hochschule für Film und Fernsehen Potsdam, deren Rektor er bis 1990 war.

Mitglied der SED.

1990 Mitglied der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR. 1991 Landesvorsitzender der PDS in Brandenburg und abgeordneter des Landtages bis 2005. Danach, bis 2009, Mitglied des deutschen Bundestages. Von 1993 bis 2000 und erneut von 2003-2007 war er Bundesvorsitzender der PDS. Von 2007 bis 2010 war er zusammen mit Oskar Lafontaine vorsitzender der Partei die Linke. Zur Europawahl 2009 wurde er als Spitzenkandidat seiner Partei in das europäische Parlament gewählt. Dort ist er Vorsitzender seiner Fraktion. Lothar Bisky ist verheiratet und Vater dreier Söhne.