Lesung mit dem Romancier und Erzähler Sten Nadolny: Ullsteinroman

Sten Nadolny ist ein begnadeter Erzähler.
Erstes Aufsehen erregte er 1980 in Klagenfurt mit der Lesung eines Kapitels aus seinem Roman „Die Entdeckung der Langsamkeit“. Er begeisterte die Jury, erhielt den Ingeborg-Bachmann-Preis und teilte die Preissumme unter seinen teilnehmenden Kollegen auf. Nadolny begründete seine Solidaritätsaktion mit dem „schädlichen Wettbewerbscharakter“ dieser Veranstaltung.

Nadolnys Kritik an der Kriegsgeneration, an der Technikgläubigkeit und der ständigen Suche nach dem „Machbaren“ wird zum Grundthema seiner literarischen Aussage: „Wir müssen langsamer werden“. Im Roman „Die Entdeckung der Langsamkeit“ erzählt Nadolny die Geschichte des britischen Seeoffiziers und Entdeckers John Franklin (1786-1847), der ein langsamer Mensch ist. Dem technischen Fortschritt, der Schnelllebigkeit und dem Leistungsanspruch wird Langsamkeit als Voraussetzung für Lebensgefühl, Humanität und Selbstgewissheit entgegengesetzt. Reduziertes Tempo bedeutet auch Orientierung, Genussfähigkeit, Verantwortungsgefühl und Respekt.

Familie Ullstein

Sten Nadolny hat aus seinem jüngsten Buch gelesen: „Ullsteinroman“. Es erschien zum 100jährigen Jubiläum in jenem Verlagshaus mit der Eule und erzählt die Geschichte der Familie Ullstein. Hajum Hirsch Ullstein betrieb noch eine einfache Großhandlung für Papier in Fürth. Sein Sohn Leopold wagte den Sprung nach Berlin, wo er die erste Zeitungsdynastie des Kontinents gründete. Seine fünf Söhne erweiterten das Verlagsimperium um Zeitungen, Zeitschriften, Bücher, Illustrierte und vieles andere. Sie schufen den ersten modernen Medienkonzern der Welt, bis die Nazis den Verlag zerschlugen und die Familie ins Exil trieben.

Es geht um eine ehrgeizige und sehr einfallsreiche Familie, die, getrieben von Hoffnungen und Wünschen, ihren Weg geht und trotz vieler Schicksalsschläge und Schwächen ihr Ziel niemals aus den Augen verliert – nämlich die kontrollierte Vermehrung von Geld, wirtschaftlicher Macht und politischer Einflussnahme.

Damit behandelt der „Ullsteinroman“ ein sehr aktuelles Thema, dem sich das ost-west-forum in nächster Zukunft aus verschiedenen Blickwinkeln intensiver widmen wird.


 

Zur Person:

nadolny.jpgSten Nadolny wurde 1942 in Zehdenick an der Havel geboren als Kind des Schriftstellerehepaares Isabella und Burkhard Nadolny. Aufgewachsen in Oberbayern. Humanistisches Gymnasium in Traunstein, Wehrdienst, Studium der Geschichte und Politologie in Göttingen, Tübingen und Berlin. Lehrerexamen und Schuldienst an einem Berlin-/Spandauer Gymnasium und Promotion über die Genfer Abrüstungskonferenz 1932/33. 1977 Wechsel vom Schuldienst zum Film: Fahrer, Requisiteur, Aufnahmeleiter, daneben Filmkritiker und Versuche als Drehbuchautor.

Sein erster Roman erschien 1981: „Netzkarte“. Mit dem Roman „Die Entdeckung der Langsamkeit“ gelang ihm 1983 sein literarischer Durchbruch. Es folgten: „Selim oder Die Gabe der Rede“ (1990), „Ein Gott der Frechheit“ (1994), „Er oder Ich“ (1999) und der „Ullsteinroman“ (2003). Dazwischen Poetikvorlesungen: „Das Erzählen und die guten Absichten“ (1990) und „Das Erzählen und die guten Ideen“ (2001).

Literaturpreise:
Ingeborg-Bachmann-Preis (Klagenfurt, 1980),
Hans-Fallada-Preis (München, 1996),
Jakob-Wassermann-Literaturpreis (Fürth, 2004).

Sten Nadolny lebt in Berlin.