Döbelner Allgemeine Zeitung, Montag, 6. September 2010
Gödelitz (han). 20 Jahre nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems im Osten gerät der Sieger des Kalten Krieges ins Wanken. Nach der Weltwirtschaftskrise beginnt der Westen, den Kapitalismus zu hinterfragen. Die Autorin und Journalistin Daniela Dahn versucht in ihrem Buch ” Wehe dem Sieger!” zu erklären, warum der Westen mit seinem Sieg nichts anfangen kann.
Bei einer Lesung auf Gut Gödelitz stellte sie am Sonnabend ihr Buch vor. “Der Markt ist nicht perfekt. Das müssen wir jetzt anerkennen”“, sagte Daniela Dahn. Vor der Wende habe der Sozialismus den Kapitalismus gebändigt und dem Westen eine Legitimationsgrundlage abgefordert – das ist eine zentrale These ihres Buches. Ohne die regulierende Kraft des Konkurrenzsystems sei der Kapitalismus zum eigentlichen Extremismus des 21. Jahrhunderts geworden. Neu ist diese Überlegung nicht, Dahns umfassende Zusammenstellung politischer Versäumnisse der Wendezeit und ihre Aufforderung aus den Erfahrungen mit dem Sozialismus zu lernen, statt alles unüberlegt über Bord zu werfen, allerdings schon.
„Die Ostdeutschen waren in diesem Prozess keine Akteure,sondern eine Schafherde“, erklärte sie und prangerte die fehlende Neugier des Westens für die Erfahrungen mit dem Projekt Sozialismus des Ostens an. Die Alte Schäferei auf Gut Gödelitz war vollständig ausverkauft. Die Gesichts- ausdrücke im Publikum signalisierten oft Zustimmung, obwohl Daniela Dahns Urteil über den Prozess der deutschen Einigung teilweise hart ausfiel. So habe es die Bundesrepublik versäumt darüber nachzudenken, einige Elemente aus der DDR zu übernehmen. Als Beispiele führte sie die DDR-Familienpolitik, die Abschaffung des Berufsbeamtentums und die Verlagerung des Güter- verkehrs auf die Schienen an. “Diese Dinge wurden teilweise von westdeutschen Parteien in den 90ern gefordert und trotzdem radikal abgeschafft”, so Dahn.
Während momentan von einem neuen Trend gesprochen werde, weil immer mehr Frauen berufstätig sein wollen und gleichzeitig Kinder haben möchten, sei das in Ostdeutschland seit einem halben Jahrhundert selbstverständlich. Noch drastischer beleuchtete die Autorin die Abwicklung des kulturellen Bereiches im Osten. “Leipzig war Jahrhunderte lang führend in der Buchproduktion. Heute liegt der Anteil Ostdeutschlands an der deutschen Buchproduktion nur noch bei zwei Prozent”,erklärte Daniela Dahn. Entlassungen im Medienbereich beschrieb sie als teilweise willkürlich.
Die aus Ostdeutschland stammende Autorin zeigte auch Verständnis für die Empfindungen der Westdeutschen, die sich laut einer Studie als die eigentlichen Verlierer der Wende betrachten. “Die Westdeutschen fühlen sich in der Falle, denn nur elf Prozent der Transferleistungen werden in die Wirtschaft gesteckt. Der Rest geht für Arbeitslosengeld und Sozialleistungen drauf”, so Daniela Dahn. Die Soziale Frage sei so ungelöst, wie nie zuvor. Der Lesung auf Gut Gödelitz war am Sonnabend eine verspätete Künstlervorstellung vorangegangen. Seit Juni hängen in der alten Schäferei Bilder des Dresdener Malers Werner Pinkert. Nun wurde der Künstler dem Publikum vorgestellt. Die Ausstellung trägt den Titel „1+1=1 Malerische Impressionen aus Ost + West-Deutschland“.