Veranstaltung am 4.9. 2010
Lesung und Diskussion mit der Autorin und Journalistin Daniela Dahn
Was bewegt uns, wenn wir auf 20 Jahre vereinigtes Deutschland zurückblicken? Alle können wohl darüber dankbar sein, dass die Vereinigung ohne Blutvergießen verlief, dass die Städte und Dörfer in Ostdeutschland vor dem Verfall bewahrt und eine vorzügliche Infrastruktur aufgebaut wurde. Politische Freiheiten, Reisemöglichkeiten in alle Welt und ein fast grenzenloses Konsumangebot haben sich die Ostdeutschen mit ihrer friedlichen Revolution erkämpft. Der Westen hat das erreicht, was 40 Jahre Verfassungsgebot und proklamiertes politisches Ziel war:
Die Wiedervereinigung Deutschlands. Der Westen als Sieger der Geschichte.
Was haben wir aus diesem Sieg gemacht? Sind die blühenden Landschaften geschaffen worden? Können wir mit dem, was wir erreicht haben, zufrieden sein?
Die Meinungen darüber sind gespalten. Manche finden, der Aufbau Ost sei gelungen, von einigen Unebenheiten abgesehen könne man das Thema nun als abgeschlossen betrachten. Im Westen jedoch empfindet eine zunehmende Zahl von Menschen die Ostdeutschen maßlos in ihren Ansprüchen, mit den hohen Transferzahlungen müsse nun bald Schluss sein, jetzt sollten die wirtschaftlich schwächelnden Regionen in der alten Bundesrepublik mal wieder bedacht werden. Und die Ostdeutschen? Wenn sie eine gut bezahlte und sichere Arbeit haben, wenn sie jung, gebildet und zukunftssicher sind, unterscheiden sie sich kaum von ihren westdeutschen Kollegen oder Freunden.
Sind sie jedoch älter, arbeitslos oder pendeln von einer Umschulung in das nächste prekäre Arbeitsverhältnis, dann beurteilen sie die Welt des Westens wesentlich kritischer. Für sie präsentiert sich der Kapitalismus so,
wie sie es aus den früheren Lehrbüchern kennen, aber oft nicht glauben wollten: Hohe Arbeitslosigkeit, ungerechte Verteilung des gemeinsam Erarbeiteten, ungehemmter Einfluss der Wirtschaft auf die politischen Entscheidungsträger.
Nach wie vor empfinden sich zwei Drittel als Deutsche zweiter Klasse. Sie nehmen zur Kenntnis, dass über 90% des Investitionskapitals in westdeutschen Händen ist. Dass fast alle Chefposten von Westdeutschen besetzt sind. Und dass sie über ihre Vergangenheit, über ihr Leben in der DDR niemals positiv reden sollten, wollen sie nicht als Beschöniger eines Unrechtsstaates, eines Stasistaates, einer zweiten deutschen Diktatur beschuldigt werden. Haben sie, wenn sie sich anstrengten und ihre Arbeitspflichten ernst nahmen, den Unrechtsstaat nicht auch unterstützt? Also halten sie sich zurück, denken sich ihren Teil, erheben aber dort, wo sie leben, mit ihren Stimmzetteln die Linkspartei zu einer veritablen Volkspartei.
Der öffentliche Diskurs über all diese Probleme findet nicht statt. Wer dennoch auf einem differenzierteren Bild der DDR beharrt, wer die Gleichsetzung beider deutschen Diktaturen ablehnt und gleichzeitig die demokratiefeindlichen Auswirkungen von Neoliberalismus und Globalisierung auf unsere heutige Gesellschaft analysiert und kritisch kommentiert, muss schon Mut aufbringen. Daniela Dahn, deren Buch „Wehe dem Sieger! Ohne Osten kein Westen“ wir vorstellen wollen, hat diesen Mut. Sie hatte ihn immer – heute wie damals, als sie in der DDR widerständig ihren eigenen Weg ging. Und heute wie damals muss und musste diese scharfsinnige, sensible Frau mit erheblichen Anfeindungen leben.
Wir haben uns sehr gefreut, dass wir Frau Dahn als Gast des ost-west-forums auf Gut Gödelitz begrüßen durften.
Zur Person:
Geboren 1949 in Berlin als Tochter des Journalisten Karl-Heinz Gerstner und der Kostümbildnerin (DEFA) und Modejournalistin Sibylle Boden-Gerstner, Gründerin der DDR-Modezeitschrift „Sibylle“. Nach dem Abitur arbeitete Daniela Dahn als Volontärin bei der DEFA und beim DDR-Fernsehen. Anschließend studierte sie bis 1973 Journalistik an der Karl-Marx-Universität in Leipzig. Danach arbeitete sie acht Jahre als Fernsehjournalistin – erst beim Jugendfernsehen, dann beim Innenpolitischen Magazin „Prisma“. In dieser Zeit eckte sie – selbst SED-Mitglied – wiederholt mit der SED-Obrigkeit an, sie stellte sich auch gegen die Biermann-Ausbürgerung. 1981 kündigte sie beim DDR-Fernsehen „um nicht die Selbstachtung zu verlieren“. Seither publiziert sie als freie Autorin.
1989 war sie Mitautorin der „Erklärung des Berliner Schriftstellerverbandes“, die einen öffentlichen Dialog über die in allen Bereichen der DDR-Gesellschaft angestauten Probleme forderten. Zudem war sie Mitbegründerin der Oppositionsgruppe „demokratischer Aufbruch“ (da). Nach der Annäherung der da an die CDU zog sich Daniela Dahn zurück. Sie galt als Anhängerin des sog. dritten Weges, der ein anderes, gerechteres Modell als den Staatssozialismus oder den Kapitalismus für eine eigenständige DDR anstrebte.
Daniela Dahn war zudem Mitglied der Untersuchungskommission zu den polizeilichen Übergriffen bei den Protesten gegen das SED-Regime am 7. und 8. Oktober 1989 in Berlin. Beteiligt war sie auch am Entwurf eines neuen Polizeigesetzes und eine neues Pressegesetzes.
Vortragsreisen führten sie auf Einladung des Goethe-Instituts bereits ab 1988 ins westliche Ausland. 1990 besuchte sie mehrere Universitäten in den USA.
In ihren Schriften und Büchern analysiert und kritisiert Daniela Dahn gesellschaftliche Missstände, zuerst in der DDR und später im vereinten Deutschland. Auch mit den folgen von Globalisierung und Neoliberalismus für unsere Gesellschaft setzt sie sich kritisch auseinander. Bekannte Publikationen sind „ Wir blieben hier oder wem gehört der Osten“ (1994), „Westwärts und nicht vergessen“ (1996), „Vertreibung ins Paradies“ (1998), „In guter Verfassung. Wie viel Kritik braucht die Demokratie?“ (1999), „Wenn und aber. Anstiftung zum Widerspruch“ (2002) oder „Demokratischer Abbruch. Von Trümmern und Tabus“ (2005) und „Wehe dem Sieger! Ohne Westen kein Osten” (2009).
Daniela Dahn erhielt 1999 den Kurt-Tucholsky-Preis, 2002 die Louise-Schröder-Medaille und 2004 den Ludwig-Börne-Preis.
Daniela Dahn ist Mitherausgeberin der Wochenzeitung „ Der Freitag“. Gesellschaftlich engagiert sie sich als Mitglied der Schriftstellervereinigung p.e.n. sie gehört dem Beirat der humanistischen Union an, ist stellvertretende Vorsitzende des Willy-Brandt-Kreises e.V. und Mitglied der internationalen Untersuchungskommission „Grundrechte und Globalisierung“.
Daniela Dahn ist verheiratet mit dem Schriftsteller Joochen Laabs, das Ehepaar hat eine Tochter und lebt in Berlin.