Döbelner Allgemeine Zeitung, Montag 4. Oktober 2010
(Stefan Hantzschmann)
Professor Dr. Jens Reich hält Vortrag auf Gut Gödelitz zum Einigungsprozess 20 Jahre nach dem Mauerfall zieht Deutschland Fazit über den Einigungsprozess. Auf Gut Gödelitz sprach der Molekularbiologe und Bürgerrechtler Jens Reich am Sonnabend über seine Erfahrungen als einer der Initiatoren des Neuen Forums, über verpasste Chancen und Parallelen zur heutigen Situation. Professor Reichs Fazit zum Einigungsprozess fiel kritisch aus, sein Blick in die deutsche Zukunft skeptisch.
„Es stimmt, dass das Nilpferd aus Bonn die Pflanze der Demokratie eingetreten hat, aber es stimmt auch, dass wir kein Konzept hatten“, betonte Jens Reich in seinem Vortrag. Der Wissenschaftler ging durch diese Feststellung auch mit dem Neuen Forum ins Gericht, dem er selbst angehörte und das später in der Partei Bündnis 90/Die Grünen aufging. Sowohl das Neue Forum als auch die Bevölkerung hätten es versäumt, ein Konzept zu erarbeiten, wie die konkrete Wiedervereinigung aussehen sollte, weil sie sich die dringendsten Bedürfnisse konzentrierten, wie die Erlangung von Meinungsfreiheit. Zu den großen verpassten Chancen zählte Reich, eine andere Struktur der Energieversorgung zu erwirken oder eine Verfassungs- und Wirtschaftsdiskussion zu führen. Stattdessen wurde das westliche System schlicht kopiert. Reich veranschaulichte durch Beispiele die Tragik der Resignation dieser Zeit. „Wenn die Bevölkerung etwas wirklich wollte und sich äußerte, haben die Bonner reagiert. Man hätte mehr machen und erreichen können“, formulierte Reich die zentrale These seines Vortrages. Seiner Meinung nach wäre die Deutsche Einheit bereits vier Jahre eher möglich gewesen.
Jens Reich warnte in seinem Vortrag energisch davor, zu resignieren. „Sowohl der politische Zustand jetzt als auch die Aussichten, sagen mir: Eigentlich müssen wir etwas machen.“ Die Proteste in Stuttgart erinnerten ihn an Leipzig 1989. Auf die Frage aus dem Publikum, was er verändern würde, gestand Jens Reich eine gewisse Ratlosigkeit. Dennoch formulierte der Bürgerrechtler einige Vorschläge: „Es ist eine Schande, dass die Deutschen sich nach der Einigung keine Verfassung gegeben haben!“, so Reich energisch. Außerdem sei er dafür, den Bundespräsidenten vom Volk wählen zu lassen und der Bevölkerung mehr Plebiszite zu ermöglichen. Das grundsätzliche Problem sei aber „ein unbehaglicher Zustand der Demokratie“.