Südkurier – Interview mit Oya Abali

9.1.2012

Auf einen Kaffee mit Oya Susanne Abali, die bei einem Milchkaffee im Il Boccone die deutsch-türkischen Biografiegespräche vorstellt. Autor: han

 

 

Frau Abali, warum braucht es nach so vielen Jahren des Miteinanders zwischen Deutschen und Türken noch Angebote zur Annäherung wie Ihre Biografiegespräche?

Diese Annahme würde ich schon mal korrigieren. Natürlich leben wir in Deutschland miteinander, aber wir leben leider auch sehr stark nebeneinander. Umfragen zeigen, dass Deutsche ohne Migrationshintergrund die Türkeistämmigen immer noch als sehr fremd empfinden. Das ist in Bezug auf die Italiener ganz anders. Die Befremdung gegenüber Italienern oder Italienischstämmigen war in den 80er-Jahren noch spürbar, aber das hat sich bereits in den 90er-Jahren stark geändert und ist sehr zurückgegangen. Nicht so in Bezug auf Türkeistämmige: Die Diskussionen um die Integration und um den Islam bewirken, dass nach 50 Jahren des Miteinanders Türkeistämmige immer noch als fremd, als in gewissen Parallelwelten lebend, wahrgenommen werden. Das liegt sicherlich an beiden Seiten. Viele Deutsche pflegen in ihrem persönlichen Umfeld gar keinen Umgang mit Türkeistämmigen und anders herum. So wachsen gewisse Vorurteile, da Informationen nur über Dritte oder über die Medien eingeholt werden.

 

Mit welchen Vorurteilen haben beide Seiten zu kämpfen?

Meine Erfahrung ist, dass es auf der Seite der Türkeistämmigen immer wieder die Vorstellung gibt, dass Deutsche gefühlskalt sind, dass die Familienbande im Vergleich nicht sehr stark sind, dass die sozialen Kontakte eher oberflächlich sind und dass Religion oder Werte keine große Rolle spielen. Auf der Seite der Deutschen wiederum gibt es die Vorstellung, dass Türkeistämmige konservativ und sehr in ihrer Religion behaftet sind, dass die Frauen unterdrückt werden, während die Männer Machos sind. Bildung sei nicht wichtig und Türkeistämmige würden sich gegenüber allem Modernem verschließen, um ihre althergebrachten Werte zu leben. Unsere deutsch-türkischen Biografiegespräche bieten eine Möglichkeit, diese Wahrnehmung im persönlichen Austausch zu überprüfen.

 

Wie kamen Sie darauf, die Biografiegespräche am Bodensee einzuführen?

Das Konzept wurde vor 18 Jahren erstmals in einem deutsch-deutschen Kontext angewandt, und zwar als ost- und westdeutsches Biografiegespräch. Die Idee war, dass die Befremdung, die nach der Wende zwischen Ost- und Westdeutschen herrschte, durch persönliche Begegnungen überwunden wird. An diesen sehr erfolgreichen Gesprächen hat vor einiger Zeit ein Türkeistämmiger teilgenommen und dort den Satz gesagt: ‚Das war das erste Mal, dass ich mich auf Augenhöhe behandelt gefühlt habe.’ Dieser Erfolg war der Auslöser für das überparteiliche Ost-West-Forum, die deutsch-türkischen Biografiegespräche zu initiieren. Ich habe an einer der beiden Pilotveranstaltungen 2009 auf Gut Gödelitz in der Nähe von Dresden teilgenommen und war ganz begeistert von dieser Herangehensweise. Diese Erfahrung hat mich so beflügelt, dass ich das hier am Bodensee auch einführen wollte. Seitdem engagiere ich mich dafür ehrenamtlich. Wir bieten die Biografiegespräche in Konstanz jetzt zweimal im Jahr an.

 

Wie laufen die Biografiegespräche ab?

An einem Wochenende kommen zehn Deutsch- und Türkeistämmige, die sich vorher noch nie begegnet sind, von Freitagabend bis Sonntagmittag auf der Insel Reichenau zusammen. Wir achten vom Alter und vom Geschlecht her auf eine gewisse Mischung. Es sollten außerdem Menschen sein, die in ihrem persönlichen Umfeld nicht viele Deutsch- oder Türkeistämmige haben, die aber neugierig und bereit sind, sich auf einen solchen Austausch auf Augenhöhe einzulassen. Am ersten Abend lernen sich die Teilnehmer kennen. Am Samstagmorgen nach dem Frühstück beginnen wir mit dem ersten Teil des biografischen Erzählens, nämlich der Kindheit und der Jugendzeit. Die Erzählrunden werden moderiert. Jeder hat etwa 20 Minuten Zeit und darf in dieser Zeit erzählen, ohne unterbrochen zu werden. Es gibt kein Gut oder Böse, kein Falsch oder Richtig, das Erzählte soll einfach für sich stehen bleiben. Deswegen sind nur Verständnisfragen erlaubt und keine Bewertung. Im zweiten Teil der Gespräche erzählen die Teilnehmer über das Hier und Jetzt, das Erwachsenenalter. Hier kommen auch die Fragen auf, in welcher Gesellschaft wir leben wollen, wie wir das Zusammenleben von Deutschen und Türkeistämmigen in Deutschland beurteilen und was wir persönlich tun können, um es zu verbessern.

 

Was verändert sich durch die Gespräche?

Es sind Begegnungen, die alle Schranken aufheben und die aufzeigen, welche Parallelen es gibt – selbst wenn Menschen aus ganz verschiedenen Ländern kommen und sehr unterschiedliche Erfahrungen in ihrem Leben gemacht haben. Ab einem gewissen Punkt der Erzählungen weiß man oft gar nicht mehr, was deutsch und was türkisch ist, sondern man merkt, dass es viele auch unerwartete Parallelen gibt. Zum Beispiel erkennt man: ‚Ja, das Gefühl der Fremdheit kenne ich auch.’ Oder man hat auch in der Kindheit die Nähe der Eltern vermisst. Eine Parallele zeigt sich zum Beispiel bei einigen Vertretern der zweiten Generation der Türkeistämmigen und bei deutschen Nachkriegskindern. Bei den Türken kam die erste Generation nach Deutschland und hat gearbeitet wie verrückt, um sich und den den Kindern eine bessere Zukunft zu sichern. Dabei kamen die Kinder manchmal emotional zu kurz. Genauso sagen Deutsche der Nachkriegsgeneration: ‚Meine Eltern wussten nicht, wie sie Gefühle zeigen sollen.’ In den Biografiegesprächen ergeben sich Verbindungen, die völlig losgelöst sind von der Kultur. Sie schaffen persönliche Nähe und ermöglichen somit ein besseres Verständnis für das Gegenüber. Politische Debatten können das nicht leisten. Deswegen sparen wir sie bewusst in den Biografiegesprächen aus.

 

Welche Rückmeldungen bekommen Sie von den Teilnehmern?

Sie sagen, dass es für sie eine sehr wertvolle Erfahrung war. Die Deutschen ohne Migrationshintergrund werden sich bewusst, dass sie ihre Informationen über Türkeistämmige oft aus zweiter Hand beziehen. Nun kennen sie Menschen, die sie direkt fragen können. Genauso ist es bei den Türkeistämmigen. Hinzu kommt, dass es für jüngere Türkeistämmige oft auch informativ ist, sie erfahren mehr über ihren eigenen Hintergrund. Sie hören, mit welchen Problemen die Generationen ihrer Eltern und Großeltern zu kämpfen hatten, welche positiven und negativen Erfahrungen sie gemacht haben. Alle Teilnehmer merken, dass es eigentlich mehr Verbindendes als Trennendes gibt.

 

Was ist für Sie gelungene Integration? Hängt sie nur an der Sprache?

Ich glaube, die deutsche Sprache ist eine ganz wichtige Voraussetzung für Teilhabe, da kommen wir nicht drum herum. Das bedeutet nicht, dass Zuwanderer ihre eigene Kultur oder Sprache völlig vernachlässigen. Ihren Hintergrund sollten sie unbedingt bewahren, weil er Teil ihrer Identität ist. Man kann auch Deutscher mit türkischen Wurzeln sein. Das ist kein Widerspruch, sondern in meinen Augen ein großer Reichtum. Zur gelungenen Integration trägt es aber auch bei, wenn Deutsche die Zuwanderer zuerst dort abholen, wo sie stehen. Deutsch ist eine schwer zu erlernende Sprache und man kann natürlich nicht erwarten, dass Menschen, die im Erwachsenenalter nach Deutschland kommen, sie in kurzer Zeit perfekt lernen. Wenn Zuwanderer noch nicht gut Deutsch sprechen, sind Projekte wie ‚Mama lernt Deutsch’ sehr wichtig. Es muss Hand in Hand gehen. Damit vermitteln die Deutschen auch ihre Wertschätzung den Zuwanderern gegenüber.

 

Welche Bindungen haben Sie zur Türkei und zu Deutschland?

Meine Mutter ist Deutsche, mein türkischer Vater hat in Deutschland studiert. Nachdem sie sich kennen gelernt hatten, ist meine Mutter mit in die Türkei gegangen. Ich bin dort geboren und aufgewachsen, war aber immer auch mit der deutschen Kultur in Kontakt. So wie die so genannten Gastarbeiterkinder im Sommer in die Türkei geflogen sind, bin ich mit meiner Mutter nach Deutschland geflogen, um unsere deutsche Verwandtschaft zu besuchen. Ich bin auch zweisprachig erzogen worden. Dadurch hatte ich keine Integrationsschwierigkeiten. Ich habe aber trotz allem gemerkt, dass ich in der Türkei sozialisiert bin. Zum Beispiel legt das türkische Bildungssystem nicht sehr viel Wert auf eigenständiges Lernen. Somit war es für mich schwieriger, mich an der Universität in dieses neue System einzudenken.

 

Wollen Sie in Zukunft in Deutschland bleiben oder kann es auch sein, dass Sie mit der Familie in die Türkei gehen?

Mein Mann ist Deutscher ohne Migrationshintergrund. Er ist gerne in der Türkei und kann sich prinzipiell auch vorstellen, dort zu arbeiten und zu leben. Das Gleiche gilt natürlich auch für mich. Ich möchte die Rückkehr in die Türkei nicht kategorisch ablehnen. Sie ist immer noch auch Heimat, weil meine Eltern dort leben und ich noch gute alte Freunde dort habe. Aber jetzt bin ich erstmal in Konstanz angekommen. Ich lebe sehr gerne hier und möchte vorerst bleiben.