Sächsische Zeitung – „Sagt endlich die Wahrheit!“

Ex-Daimler-Chef Edzard Reuter verurteilt die Europa-Politik der Bundesregierung

Sächsische Zeitung – Döbelner Anzeiger, 23. Juni 2014
Text von Dagmar Doms-Berger

Edzard Reuter, bis 1995 Vorstandschef von Daimler-Benz, ist für die „Vereinigten Staaten von Europa“ nach amerikanischem Vorbild.Foto: Lutz Weidler Edzard Reuter, bis 1995 Vorstandschef von Daimler-Benz, ist für die „Vereinigten Staaten von Europa“ nach amerikanischem Vorbild. Foto: Lutz Weidler

Was die Politik dringend braucht, ist der Mut zur Wahrheit. Das sagte Edzard Reuter am Freitagabend vor über 200 Zuhörern im Ost West Forum Gut Gödelitz. Es ging um Europa. Mit dem Ex-Vorstandschef der Daimler-Benz-AG hatte der Verein wiederholt einen überzeugten Europäer eingeladen, diesmal aber einen Industriellen, der das Thema aus wirtschaftlicher Sicht analysierte. Reuter sieht eine gesicherte Zukunft nur über die Vereinigten Staaten von Europa, weiß aber, dass die gegenwärtige Situation der Europäischen Union problematisch ist. Die bestehende Eurokrise, neoliberaler Zeitgeist, kleinkarierter Egoismus und rückwärtsgerichteter Nationalismus stünden der europäischen Idee entgegen.

Es sei klar, dass der Weg zu den Vereinigten Staaten von Europa Opfer von denen verlange, denen es bessergeht, das heißt, auch von den Deutschen. Das wüssten alle Politiker, aber niemand sage den Menschen auf der Straße die Wahrheit, wohin die Reise gehen soll, beklagt der 86-Jährige die Taktik. Er bescheinigt der Bundesregierung und vor allem der Kanzlerin zu wenig Einsatz für die europäische Idee. Es fehlten Politiker mit Charisma. Die meisten Exporte gingen direkt an die europäischen Nachbarn. Es liegt daher im eigenen Interesse, diese Wirtschaften zu stärken.

Für Reuter ist die Vision von den Vereinigten Staaten von Europa mehr als die Eurokrise. Seiner Ansicht nach gibt es eine europäische Identität, gemeinsame Werte, die nicht zuletzt eine der Errungenschaften der Aufklärung seien, also dem Vorrang der Vernunft, der „Ablösung irrationalen Aberglaubens durch die menschliche Vernunft“.

Noch immer schielten die Regierungschefs zu sehr auf den eigenen Vorteil ihres eigenen Landes und hätten viel zu wenig den Geist von Europa im Blick, kritisiert Reuter. „Wer aber glaubt, dass wir uns allein in der globalen Welt durchsetzen können, dem ist nicht zu helfen.“ Mächte wie die USA, China und Indien hätten mehr Gewicht. „In Europa werde gerade mal ein Viertel des Weltbruttosozialprodukts produziert – wir werden verschwinden.“ Es müsse sich etwas ändern.

Ein engeres Zusammenrücken der Nationen in Europa sei daher dringend notwendig, notfalls auch mit „zwei Geschwindigkeiten“. Es sieht in der fehlenden Führungsstrategie der Regierung auch einen Mangel an demokratischem Respekt. Er fordert, dass aus der Europäischen Kommission eine Regierung, aus der Europäischen Union die Vereinigten Staaten von Europa werden – in Anlehnung an die politische Struktur der USA.

Seine Ansichten hat Edzard Reuter in seinem jüngsten Buch veröffentlicht: „Egorepublik Deutschland. Wie uns die Totengräber Europas in den Abgrund reißen.“