Am 6. September ist auf Gut Gödelitz die 29. Kunstausstellung eröffnet worden
“Wir wissen, dass Millionen von Herzen hinter jenen standen, die wirklich die Mauer niederrissen.” – Hilary Clinton
Vortrag zur Ausstellungseröffnung von Professor Szalai:
Liebe Mitglieder und liebe Freunde des ost-west-forum Gut Gödelitz, verehrte Gäste, meine Damen und Herren,
im Namen des Vorstandes unseres Bürgervereins begrüße ich sie alle zu einer neuen Veranstaltung unserer monatlichen Samstag-Abend-Reihe.
Heute soll es um ein Jubiläum gehen, um den 25. Jahrestag der friedliche Revolution in Deutschland.
Über diesen historischen Ereigniskomplex werden wir wahrscheinlich in den nächsten Wochen viel lesen, viel hören, viel sehen können. In Rundfunk und Fernsehen wird es dazu gewiss Talkshows und Dokumentationssendungen geben.
Politiker aller Parteien werden sich in den unterschiedlichen Medien auf unterschiedliche Art dazu äußern.
Bestimmte Orte, bestimmte Plätze werden besondere Aufmerksamkeit erfahren.
In einer Zivilgesellschaft, einer Bürgergesellschaft, ist es wichtig, dass sich auch Bürgervereine mit diesem geschichtlichen Großereignis befassen. Unser Bürgerverein, das ost-west-forum Gut Gödelitz, ist schon von seinem programmatischen Namen her dafür besonders prädestiniert.
Wir haben in Gödelitz diese Revolution, diese Wende, diesen Umbruch in zahlreichen Veranstaltungen unter ganz spezifischen Gesichtspunkten immer wieder angesprochen, so zuletzt im vorigen Monat in der Veranstaltung mit Elmar Faber, dem bekannten Verleger aus Leipzig.
Die große Aufmerksamkeit für dieses historische Ereignis ist berechtigt, denn diese Revolution dürfte als ein Glücksfall deutscher Geschichte in die Schulbücher eingehen. Zum ersten und einzigen Mal in der deutschen Geschichte ist ein derartig fundamentaler gesellschaftlicher Umbruch gelungen. Und vor allem, das ist ohne bewaffnete Gewalt geschehen. Kerzen hatten sich als machtvoller erwiesen als Gewehre! Wann und wo hat es das schon in der langen deutschen Geschichte gegeben?
Und wir alle, die Jungen, die Nachgeborenen ausgenommen, haben diese Revolution mit erlebt, ob als aktiv Beteiligte oder als Zuschauer und Beobachter, ob vor Ort, vielleicht nur hinter der Gardine oder aus der Ferne am Bildschirm. Wir haben sie erlebt, viele von uns mit freudvoller Zustimmung und mit großer Hoffnung, manche mit verstörter Besorgnis, einige wahrscheinlich auch mit Verunsicherung und Angst…
Heute, ein Vierteljahrhundert danach, wollen wir auf den Herbst 1989 und das Jahr 1990 zurückschauen. Wir wollen uns daran erinnern.
Erinnern ist ein sehr komplexer, ein persönlicher und subjektiver Vorgang.
Man erinnert lieber Gutes und Geglücktes als Schlechtes und Missratenes.
Das eigene Leben erinnert man am liebsten so, dass man dabei möglichst gut wegkommt.
Autobiografien dienen der Selbstvergewisserung auch durch eine gewisse Selbstbeschönigung.
Erinnerungen sind meist mit Deutungen und Wertungen verknüpft.
Erinnern geschieht, in der Regel unbewusst, standpunktabhängig und interessengeleitet.
Dasselbe Ereignis kann daher ganz unterschiedlich erinnert werden.
Aber wir alle halten unsere Erinnerungen für wahr.
Jede Erinnerung ist eine subjektive „Wahrheit“, aber nur selten eine objektive.
Konflikte zwischen Menschen und Menschengruppen entstehen häufig nicht wegen unterschiedlicher Zustände und Ereignisse, sondern wegen unterschiedlicher Ansichten und Deutungen über dieselben Zustände und Ereignisse.
Fragen wir uns: Können wir neben unseren eigenen Erinnerungen, neben unserer eigenen subjektiven Wahrheit, die Erinnerungen anderer, die subjektiven Wahrheiten anderer aushalten und gelten lassen?
Geschichte ist erinnerte Vergangenheit und damit auch gedeutete Vergangenheit.
Geschichte ist nicht nur eine Rekonstruktion von Vergangenem, sondern immer auch eine Konstruktion, etwas Erfundenes. Wahrheit und Dichtung liegen oft eng beieinander.
Zur selben Vergangenheit kann es darum unterschiedliche Geschichte(n) geben.
Jede Zeit, jede Gesellschaft benutzt zu ihrer Selbstvergewisserung ihre eigenen Geschichtsbilder.
Sie schreibt Geschichte neu, schreibt Geschichte um, deutet sie neu, deutet sie um.
Und Geschichte wird jeweils von den Siegern geschrieben.
Von Napoleon Bonaparte soll die Aussage stammen, dass Geschichte diejenige Fabel ist, auf die man sich später geeinigt hat. Eine drastisch zugespitzte und wahrscheinlich von Voltaire stammende Formulierung des gleichen Sachverhaltes lautet: Geschichte, das sind die Lügen der Sieger.
Der folgende Witz drückt das Problem so aus:
Frage: Was ist der Unterschied zwischen dem lieben Gott und den Historikern?
Antwort: Der liebe Gott kann die Vergangenheit nicht mehr verändern.
Heute Abend wollen wir uns an die friedliche deutsche Revolution auf drei Zeitebenen erinnern.
Die erste Zeitebene sind die Jahre1989/1990.
Die zweite Zeitebene liegt 15 Jahre danach, bei 2004/2005.
Die dritte Zeitebene ist unsere Gegenwart, also 25 Jahre später.
Bei der ersten Zeitebene wollen wir unseren Blick auf das Geschehen in Leipzig richten, auf die Montagsdemonstrationen vor allem. Von diesen ist der Ruf ausgegangen „Wir sind das Volk“.
Gelegentlich muss man einige Leute an die historische Tatsache erinnern, dass die friedliche Revolution vom Osten ausgegangen ist.
An die Leipziger Montagsdemonstrationen erinnert das ost-west-forum Gut Gödelitz mit einer eigenen Kunstausstellung. Sie wird heute eröffnet. Es ist unsere 29. Ausstellung.
In dieser Ausstellung sind Fotografien zu sehen.
Aufgenommen hat sie eine Demonstrantin, die Leipziger Künstlerin Edith Tar.
Die gleichen Fotos werden am 9. Oktober beim Lichtfest in Leipzig am Ring an genau den Punkten gezeigt werden, an denen sie vor 25 Jahren gemacht worden sind.
Wir können sie bereits heute in Gödelitz betrachten.
Bei diesen fotokünstlerischen Arbeiten handelt es sich zugleich um historische Quellen, die uns mit großer Objektivität von einem vergangenen Geschehen erzählen, von Volkszorn und Mut, von Bangen und Euphorie, von Angst und Hoffnung. Die Künstlerin und Zeitzeugin Edith Tar hat ihrer Ausstellung den schönen Titel „Pfade der Freiheit“ gegeben.
In der heutigen Veranstaltung können wir die Originalfotografien von Edith Tar kombiniert mit Originaltonaufnahmen erleben. Der junge Leipziger Schriftsteller Radjo Monk hat diese Tonzeugnisse während der Montagsdemonstrationen eingefangen – mit seinem Diktiergerät. Auch er ist Künstler und Zeitzeuge in einer Person.
Das Künstlerpaar Edith Tar und Radjo Monk, das auch im Leben ein Paar ist, hat seine Originalbildtonkombination „Wir sind das Volk“ betitelt. Auch bei diesem Video haben wir es sowohl mit einem subjektiven Kunstwerk als auch mit einer objektiven historischen Quelle zu tun.
Edith Tar und Radjo Monk haben seit 1989 gemeinsam zahlreiche Ausstellungen und künstlerische Projekt realisiert.
Zur Person: Edith Tar
♦ in Biela (Kreis Tetschen-Bodenbach) geboren
♦ aufgewachsen in Lucka (Thüringen)
♦ 1972-1976 Studium an der Hochschule für Grafik und Buchgestaltung in Leipzig
♦ Diplom für Fotografie
♦ lebt und arbeitet freischaffend in Leipzig
♦ Arbeitsgebiete: Fotografie, Installation, Videofilm (Regie, Kamera, Produktion, Kommunikation)
♦ Stipendien und Projektförderung (München, Höfgen, Griechenland, Israel, Frankreich, Italien, Teneriffa, New York)
♦ Studienreisen (Osteuropa, Westeuropa, Israel, USA, Mallorca)