Die deutsch-türkischen Beziehungen – Eine Bestandsaufnahme: Vortrag und Gespräch mit S.E. Hüseyin Avni Karslıoğlu

Veranstaltung am 1. November 2014

Zum 100. Jahrestag des Ausbruches des Ersten Weltkrieges erschien ein bemerkenswertes Buch des australischen Historikers Christopher Clark. Darin bestreitet er die Alleinschuld Deutschlands am Ausbruch des Krieges unter anderem mit der Begründung:  Keine der europäischen Großmächte habe sich der Mühe unterzogen, die Interessenlage des Anderen in ihr Kalkül mit einzubeziehen. Aber gerade die Fähigkeit, die Dinge aus deren Sicht, aus deren Interessenlage her zu beurteilen, macht die Friedensfähigkeit jeglicher Politik aus. Das sehen wir gegenwärtig an der Art und Weise, wie die Mehrheit unserer Medien den Ukraine-Konflikt beurteilt. Und das gilt in gewisser Weise auch für unsere Sicht auf die Türkei.

Sind wir bereit und willens, die innen- und außenpolitische Handlungsweise aus der Sicht von Präsident Recep Tayyip Erdoğan und der Regierung des Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu einmal ohne jede Selbstgerechtigkeit zu beurteilen? Das heißt keineswegs, alles kritiklos hinzunehmen. Aber es sollte immer der Versuch unternommen werden, Gemeinsamkeiten zu finden, Brücken zu bauen und Wege zu ebnen, die begangen werden können. Aus unseren Medien wissen wir vor allem dies: Dass Erdoğan die Re-Islamisierung der Türkei betreibt, dass er einen autoritären Regierungsstil ausübt, dass er mit seinen Kritikern hart umspringt – seien es
Protestierende des Gezi-Parks, unbequeme Journalisten oder kritische Gewerkschafter. Dass seine Umgebung und möglicherweise auch seine Familie in Korruptionsvorgänge verstrickt sind und deshalb Richter, Staatsanwälte und Polizisten zwangsversetzt werden. Dass er beim Kampf gegen den terroristischen IS eine merkwürdige Zurückhaltung übt, den NATO-Partner in ihrem Kampf gegen den „Islamischen Staat“ Flugplätze verweigert und dem Untergang der kurdischen Stadt Kobane scheinbar unberührt zuschaut…. Diese Liste ließe sich verlängern.

Was weniger oder kaum berichtet wird ist dies: Dass in Erdoğans Regierungszeit die Türkei einen bemerkenswerten wirtschaftlichen Aufschwung erlebt hat. Dass in die ländliche Infrastruktur, über Jahrhunderte vernachlässigt, massiv investiert wurde – fließendes Wasser, Elektrizität, Straßen und öffentlichen Verkehrsmittel haben die Lebensverhältnisse auf dem Land wesentlich verbessert. Eine Mehrheit der Bevölkerung hat dies mit ihrem Stimmzettel gewürdigt –  im August wurde Erdoğan mit 51,7% im ersten Wahlgang zum Präsidenten gewählt. Er hat die stets putschbereite Armee in ihre Schranken gewiesen. Die Türkei hat fast zwei Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen. In Geheimverhandlungen hatte sie 49 türkische Diplomaten,  Geiseln der IS-Terroristen, gegen unbekannte Zugeständnisse wieder frei bekommen. Dies, sowie die entschiedene Ablehnung eines eigenen kurdischen Staates erklärt vermutlich sein Zögern, in den Bürgerkrieg einzugreifen und den Kurden in Syrien und dem Irak zur Seite zu stehen. Deren Reaktion wiederum ist ohnmächtiger Wut, die von Erdoğan eingeleitete Versöhnung mit den Kurden droht zu scheitern. Auch diese Liste ließe sich verlängern.

In dieser schwierigen und gespannten Lage haben wir den türkischen Botschafter gebeten, unser Gast zu sein und mit uns über die türkisch-deutschen Beziehungen zu sprechen. Über das Lebensgefühl der mehr als drei Millionen Türkeistämmigen, die in Deutschland leben, oder über den geplanten EU-Beitritt der Türkei…. Es gibt eine Menge Gründe, unsere gegenseitige Interessenlage kennen zu lernen und in unser jeweiliges politisches Handeln einzubeziehen.


Foto: © Botschaft der Repubklik Türkei in Berlin

Foto: © Botschaft der Repubklik Türkei in Berlin

Zur Person:

Botschafter Hüseyin Avni Karslıoğlu

Hüseyin Avni Karslıoğlu wurde1956 in Yozgat, der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz in Mittelanatolien geboren. Nach dem Militärputsch von 1960 wanderte sein Vater, ein Arzt, mit der Familie nach Deutschland aus. So wuchs Karslıoğlu in Donaueschingen auf. Dort lernte er viel über die deutsche Kultur – vor allem von der Vermieterin der Familie, die für ihn zur „Oma Frieda“ wurde. Mit 13 Jahren wurde er auf ein Internat nach  Ankara geschickt, wo er weiter Deutsch lernte. Seinen Hochschulabschluss in Politikwissenschaften machte er ebenfalls in Ankara. Die ersten beruflichen Stationen waren die türkischen Botschaften in Teheran und Sydney. Von 1992 – 1996 arbeitete er in der Ständigen Vertretung der Republik Türkei bei den Vereinten Nationen in New York. Bevor er am 15. Januar 2012 zum Botschafter der Republik Türkei in Berlin ernannt wurde, war er u.a. als Generalkonsul der Republik Türkei in Batumi (Georgien), als Botschafter der Republik Türkei in Baku (Republik Aserbaidschan), und von 2008  – 2012 als Chef des Kabinetts im Präsidialamt tätig. Hüseyin Avni Karslıoğlu ist verheiratet und Vater von zwei Söhnen.