Gödelitzer Erklärung zum Rechtsstaat, Februar 2018

Europa: Rechtsstaat und Demokratie in Gefahr. Die Koalitionsvereinbarung schweigt dazu

Wir beobachten, wie Rechtsstaat und Demokratie in Europa in zunehmendem Maße attackiert und schleichend oder ganz offen abgebaut werden. Das gilt für Mitgliedstaaten der Europäischen Union wie auch für benachbarte Länder. Mit Sorge erfüllt uns die politische Entwicklung in Polen, Ungarn, Rumänien, der Tschechischen Republik wie auch und vor allem in der Türkei.

Was will die neue Koalitionsregierung aus CDU/CSU und SPD dagegen politisch unternehmen? In der Koalitionsvereinbarung heißt es zwar:

„Die freiheitlichen und demokratischen Grundprinzipien, die in den europäischen Verträgen verankert sind, wollen wir gegen jeden Angriff durch politische Parteien und Bewegungen verteidigen.“

„Wir wollen den Zusammenhalt Europas auf Basis seiner demokratischen und rechtsstaatlichen Werte auf allen Ebenen vertiefen und das Prinzip der wechselseitigen Solidarität stärken.“

„Die demokratischen und rechtsstaatlichen Werte und Prinzipien, auf denen die europäische Einigung ruht, müssen noch konsequenter als bisher innerhalb der EU durchgesetzt werden.“

Dieses Bekenntnis zu den demokratischen und rechtsstaatlichen Werten Europas ist zu begrüßen. Aber das reicht nicht. Der Koalitionsvertrag räumt dem für die rechtsstaatliche und demokratische Entwicklung Deutschlands und Europas so zentralen Punkt nicht die angemessene Bedeutung ein.

Denn

  • in Polen setzt die rechtskonservative Regierungspartei PiS alles daran, nach der weitgehenden Gleichschaltung der Medien die Unabhängigkeit der Justiz zu beseitigen durch Entmachtung des Verfassungsgerichts, durch zwangsweise Pensionierung hunderter Richterinnen und Richter und ihre Ersetzung durch genehme Parteianhänger, durch Aufsicht über die Gerichte durch den Generalstaatsanwalt, der zugleich Justizminister ist – alles nach dem unverblümten Motto: „Die Mehrheit steht über dem Gesetz“,
  • in Ungarn sind die Rechte und Zuständigkeiten des Verfassungsgerichts kräftig beschnitten worden. Gleichzeitig hat die Absenkung des Rentenalters für Richter und Staatsanwälte den Austausch unliebsamer Staatsdiener erleichtert. Ferner werden freie Medien so unter Druck gesetzt, dass nur noch regierungskontrollierte Medien die Medienlandschaft beherrschen,
  •  in Rumänien werden Gesetze verabschiedet, die Korruptionskriminalität von Politikern der Regierungspartei straffrei erklären und damit legitimieren,
  • in der Tschechischen Republik wird ein Politiker zum Regierungschef ernannt, gegen den Strafverfahren wegen Korruption und Subventionsbetrug geführt werden, was nach der Wiederwahl des Putin-Bewunderers Zeman als Staatspräsident eine noch größere Gefahr für den Rechtsstaat darstellt,
  • in Österreich ist eine Partei an der Regierung beteiligt, in der neo-nazistische Positionen offen vertreten werden,
  • in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden und anderswo gewinnen nationalistische und antidemokratische Kräfte an Boden.

Bei den anstehenden EU-Beitrittsverhandlungen mit Staaten wie Serbien und Montenegro sowie den anderen Staaten West-Balkans, aber auch mit der Türkei muss unmissverständlich und unumkehrbar auf demokratische Strukturen durch Gewaltenteilung und eine unabhängige Justiz gedrungen werden. Ohne solche Garantien darf es keine Mitgliedschaft in der Europäischen Union geben.

Wenn die demokratischen und rechtsstaatlichen Werte Europas das Fundament des Zusammenhalts Europas“ sind, dürfen wir Deutsche zu den gefährlichen Entwicklungen bei uns und in unseren Nachbarländern nicht schweigen. Europäische Solidarität umfasst auch kritischen Dialog, wenn wir Europa als Friedensprojekt bewahren wollen.

Demokratie ist ohne Rechtsstaat nicht denkbar. Die Herrschaft auch einer durch demokratische Wahlen hervorgegangenen Mehrheit bedarf der Begrenzung durch das Recht und Institutionen des Rechts. Nur durch das Recht und eine unabhängige Justiz werden diejenigen, die nicht zur Mehrheit gehören, geschützt. Ohne eine solche Begrenzung droht Willkür.

Wir fordern die künftigen Koalitionspartner auf, gemeinsam mit den demokratischen Kräften in den anderen EU-Mitgliedstaaten kraftvoll die rechtsstaatlichen Grundsätze zu verteidigen. Die Verantwortlichen der europäischen Institutionen müssen in ihren Bemühungen unterstützt werden, diese dort wieder herzustellen, wo sie eingeschränkt wurden. Die jetzt diskutierte Reform der Europäischen Union muss um eine rechtsstaatliche Vertiefung ergänzt werden. Nur so können wir die Demokratie in Europa wahren.

Gödelitz, Februar 2018

 

Wolfgang Arenhövel
Präsident des OLG Bremen a.D., ehem. Vorsitzender des Deutschen Richterbundes

Christoph Flügge
Staatssekretär a.D., ehem. Richter am Internationalen Strafgerichtshof für das frühere Jugoslawien

Dr. Margarete von Galen
Rechtsanwältin, Vizepräsidentin der Europäischen Anwaltsvereinigung (Council of Bars and Law Societies of Europe, CCBE)

Prof. Dr. Hansjörg Geiger
Staatssekretär a.D., Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz a.D. und des Bundesnachrichtendienstes a.D.

Axel Schmidt-Gödelitz
Vorsitzender des Ost-West-Forums Gut Gödelitz e.V.

Wolfgang Wieland
Justizsenator a.D., ehem. Mitglied des Deutschen Bundestages