Eröffnung am 9. Oktober 2021 um 18 Uhr in der Alten Schäferei von Gut Gödelitz als Vorprogramm der Veranstaltung mit Dr. Michael Lüders
Laudatio: Prof. Dr. Wendelin Szalai
Liebe Mitglieder und liebe Freunde des ost-west-forum Gut Gödelitz,
sehr geehrter Herr Dr. Lüders,
meine Damen und Herren,
im Auftrag des Vorstandes begrüße ich Sie alle zu einer neuen Veranstaltung in unserer monatlichen Samstagabendreihe.
Am Beginn eröffnet unser Bürgerverein eine neue Kunstausstellung. Es ist unsere 54. Zu sehen sind Arbeiten des Fotografen Burkhard Schade. Der Künstler ist aus diesem Anlass nach Gödelitz gekommen. Wir freuen uns darüber. Lieber Herr Schade, seien Sie in unserer Mitte herzlich willkommen.
Der Künstler hat für diese Ausstellung den Titel „Farben des Verfalls“ gewählt. Bei mir ist der Begriff „Verfall“ gefühlsmäßig irgendwie negativ belegt. Vielleicht geht es einigen unter Ihnen ähnlich. Trotzdem gefallen mir die Bilder von Burkhard Schade. Ich finde sie interessant und sogar schön. Woran mag das liegen? An den Bildmotiven, also daran, was Burkhard Schade fotografiert hat? Oder daran, wie er diese Motive abgelichtet hat, wie er sie zu diesen großformatigen, konturenstarken, detailklaren, farbkräftigen Bildern gemacht hat?
Unter www.lichtschnipsel.de findet man im Internet einen sehr informativen Überblick über sein fotografisches Schaffen, so über Einzel- und Gruppenausstellungen, über seine Fotokurse, über Beteiligungen an Buch- und Kalenderprojekten und natürlich zahlreiche Fotos, meist als Fotoserien. Viele dieser thematischen Reihen sind auf Studienreisen entstanden. Burkhard Schade hat außer in Deutschland auch in Italien und in der Türkei, in der Slowakei, in Frankreich und in Nordamerika fotografiert. Die meisten dieser Reisen hat er zusammen mit seiner Frau gemacht, mit der Malerin Petra Schade.
Nähern wir uns Burkhard Schade und seinem Schaffen mit einigen biografischen Angaben. Er wurde 1959 in Dresden geboren. In Radebeul bei Dresden hat er sein Abitur gemacht. Es folgte ein erfolgreich abgeschlossenes Ingenieurstudium. Seit 1980 beschäftigt er sich mit Fotografie. Und über die Jahre ist dieses intensiv betriebene Steckenpferd autodidaktisch künstlerische Berufung und Beruf geworden. Heute lebt und arbeitet Burkhard Schade freischaffend von der und für die Fotografie.
Einige unserer Stammbesucher erinnern sich vielleicht daran, dass wir diese beiden Künstler bereits kennen gelernt haben. In der 25. Kunstausstellung unseres Bürgervereins war unter dem Thema „Zwiegespräch“ Malerei von ihr und Fotografie von ihm zu sehen.
Frau Schade ist heute mit ihrem Mann nach Gödelitz gekommen. Wir begrüßen auch sie sehr herzlich. Von den Fotografien unserer 25. Ausstellung ist mir die Serie „Leben am Bosporus“ mit den einprägsamen Porträtfotos in besonders lebhafter Erinnerung.
Porträt- und Landschaftsfotografie betrachten wir in aller Regel als sinnvoll, schön und wichtig. Warum aber lichtet Burkhard Schade verlassene, leerstehende, verfallende Gebäude und Räume ab? Was reizt ihn, was fasziniert ihn daran?
Im Internet habe ich einen MDR-Filmbeitrag über sein fotografisches Schaffen gefunden, in dem es genau um diese Frage geht. Burkhard Schade wird darin als „Ruinenstreuner auf der Suche nach Bildern mit Geschichte“ und als „Sammler des letzten Moments“ charakterisiert. Der Fotograf selbst gesteht in diesem Film, dass er seine Faszination für Verfallsarchitektur gar nicht richtig erklären kann. Er spricht von Melancholie und Romantik sowie vom wohltuenden Gefühl äußerer Stille und innerer Ruhe, das er beim Betreten von verlassenen und lange Zeit unbenutzten und verfallenen Räumen empfindet.
An anderer Stelle erklärt er seine Motive und seine Arbeitsweise so: „Nicht die Sicht auf die Fassade, sondern der Blick dahinter ist mir wichtig. Dieser Gedanke treibt mich an, wenn ich mit Kamera und Stativ hinausziehe, um Augenblicke festzuhalten, Momente und Stimmungen einzufangen, „Lichtschnipsel“ zu konservieren. Unentwegt bin ich auf der Suche. Vergängliches und Vergangenes will ich aufspüren, Aktuelles und Einmaliges dokumentieren. Ein authentischer Blick auf die Motive ist mein Ziel und Anspruch. Mich interessieren Menschen und Gebäude und deren Geschichte und Geschichten, das Leben in alltäglichen Situationen und in Grenzbereichen.“
Als Historiker spricht mich sein Hinweis auf Geschichte und Geschichten besonders an. Geschichte ist erinnerte und gedeutete Vergangenheit. Geschichte ist Rekonstruktion und Konstruktion zugleich. Geschichte wird in deutenden und damit wertenden Geschichten erzählt. Und diese Narrative sind interessengeleitet. Daher verändern sich die jeweils politisch gewollten und medial vermittelten Geschichtsbilder. In diesem Sinne ist politische und mediale Geschichtsdarstellung immer auch Geschichtspolitik. Ich beobachte mit Sorge, wie sich in unserem Land seit rund zwei Jahrzehnten das durch Politiker und Medien vermittelte Bild von Russland ändert. Aus einem wichtigen europäischen Nachbarn und Partner wird ein bedrohlicher Gegner. In treuer Gefolgschaft zu den USA arbeitet man an einem „Feindbild Russland“.
Die Vergangenheit liegt uns in Form historischer Quellen vor, mündlichen, schriftlichen, gegenständlichen. Gebäude, Räume und deren Ausstattung sind gegenständliche Quellen. In der Regel sind gegenständliche Quellen haltbarer, authentischer, wahrer als schriftliche Quellen. Stein hält einfach länger als Papier und lässt sich schwerer fälschen. Weil verlassene und verfallende Bauten und Räume sowie deren Einrichtungen Menschenwerk aus vergangener Zeit sind, können die menschenleeren Bilder unserer neuen Ausstellung sehr wohl Geschichten über Leben und Wirken von Menschen erzählen.
Burkhard Schade möchte mit seinen Bildern Vergangenes dokumentieren. Aber seine Bilder sind mehr als nur authentische Dokumentation, wie man sie üblicherweise in Museen findet. Sie sind zugleich Kunst. Die Fotografie ist ja ein relativ junger Zweig am alten Stamm der bildenden Kunst. Bildende Kunst hat viel mit Sehen-Können zu tun. Burkhard Schade beherrscht diese Kunst des Sehens.
Und so macht er ein Bild bereits mit dem Auge, bevor er auf den Auslöser seiner Kamera drückt. Auf ihn trifft zu, was die deutsch-französische Fotografin Gisèle Freund so formuliert hat: „Das Auge macht das Bild und nicht die Kamera.“ Fotografie als Kunst ist mehr als nur die nach wahr oder falsch fragende Dokumentation. Bei ihr geht es auch um solche Kategorien wie schön und hässlich, erhaben und lächerlich, tragisch und komisch.
Burkhard Schade fotografiert so, dass selbst im Hässlichen Schönes sichtbar wird. Ein früher schöner Raum, der später verfallen und zum Schandfleck geworden ist, erscheint uns auf seinem Foto ästhetisch reizvoll und schön.
Burkhard Schade entscheidet bereits beim Sehen über den Bildausschnitt, den Blickwinkel und das Licht. Details werden ihm wichtig, so die Spiegelung eines Fensters im nassen Fußboden oder ein schönes Treppengeländer im Gegenlicht.
Das Auge des Fotokünstlers erfasst noch vor der Kamera den ästhetischen Reiz eines aufgeklappten Flügels in einem verfallenen Festsaal oder eines verbogenen Bettgestells und umherliegender Damenschuhe.
Aber auf den Fotos von Burkhard Schade ist nichts gestellt, nichts drapiert, nichts komponiert. Er lässt das Vorgefundene unverändert. Seine Die Bilder sind zugleich schön, wahr und authentisch. Burkhard Schade nennt in dieser Ausstellung ganz bewusst nicht die Orte seiner Bilder und begründet das so: „Die Fotos sollen für sich stehen.“ Seine Arbeiten wollen mehr sein als nur Information und Dokumentation. Sie sind sein ganz eigener, subjektiver künstlerischer Ausdruck der starken Eindrücke, die verlassene und verfallende Orte auf ihn machen.
2014 ist von Burkhard Schade im Mitteldeutschen Verlag ein Buch mit dieser Art von Fotografie erschienen. Es trägt den Titel „Farben des Verfalls“ und den Untertitel „Vergessene Orte zwischen Dresden und Meißen“. Es waren ein Dutzend verschiedener Orte, an denen er unterschiedliche Motive zu unterschiedlichen Jahreszeiten und unterschiedlichen Tageszeiten abgelichtet hat.
Seine Fotografien wirken wie mit Licht gemalte Stillleben. Der Buchtitel „Farben des Verfalls“ liefert zugleich das Thema seiner Gödelitzer Ausstellung. Aber für diese hat Burkhard Schade auch Bilder ausgewählt, die in dem Buch nicht enthalten sind.
Vielleicht erinnern sich jetzt einige Stammbesucher daran, dass hier in der Alten Schäferei bereits Bilder von verfallenden Gebäuden und Räumen zu sehen waren. Unsere 23. Ausstellung hatte unter dem Titel „Verlassene Orte“ Arbeiten des Berliner Fotografen Leo Pompinon gezeigt.
Burkhard Schade und Leo Pompinon sind mit ihrer Passion für verlassene Orte keine einsamen Sonderlinge. In den letzten Jahrzehnten ist eine Art von „Ruinen-Fotografie“ international zu einem neuen Genre der Fotografie geworden. Es geht dabei gezielt um die Suche nach verlassenen Orten. Man spricht von „Lost places“. Es handelt sich um eine spezielle Art von Stadterkundung. Man spricht von „Urban Exploration“. Die Akteure werden verkürzt „Urbexter“ genannt. In der Literatur findet man zahlreiche zutreffende Erklärungen dieses Trends, dieses Phänomens. Da ist die Rede von „entspannender Zivilisationsflucht“, von der „Suche nach Kulturspuren“, von „Nostalgie“, von „Rückeroberung durch die Natur“, von „Ruinenromantik“.
Apropos Ruinenromantik. Eine solche im wahrsten Wortsinn gab es bereits vor rund 200 Jahren.
In der kulturgeschichtlichen Epoche der Romantik – sie dauerte ungefähr vom letzten Viertel des 18. bis zum ersten Viertel des 19. Jahrhunderts – waren Ruinen so beliebt, dass man sogar welche gezielt errichtet hat. Viele dieser künstlichen Ruinen existieren noch heute. Und manchmal werden sie nicht gleich als künstlich erkannt. Wahrscheinlich kennen Sie auch solche künstlichen Ruinen. Immer, wenn meine Frau und ich im Dresdener Osten durch den romantischen Friedrichsgrund wandern, bestaunen wir die „Gotische Ruine“. Von wegen „gotisch“, sie ist 1785 errichtet worden! Der 1876 verstorbene Humorist und Satiriker Adolf Glaßbrenner hat über die Ruinenromantik folgenden Vers gemacht: „Wunderschön die düstern Mienen durch das grüne Laubgewind. Doch das schönste an Ruinen ist, dass sie Ruinen sind.“
Warum ist es zu einer verklärenden Rückschau auf Vergangenheit gekommen? Die Zeit der Romantik, das halbe Jahrhundert zwischen der französischen Revolution und dem Wiener Kongress, war eine unsichere und die Menschen verunsichernde Zeit. Darum flüchtete man sehnsuchtsvoll, träumend und tröstend in Vergangenheit, in Natur und in Privatheit. Im Dresdener Albertinum ist seit einer Woche unter dem Titel „Träume von Freiheit“ eine großartige Ausstellung über die Romantik in Russland und Deutschland zu sehen. Darunter von Carl Blechen das 1826 gemalte große Gemälde „Gotische Kirchenruine“.
Wir leben heute in einer schnelllebigen, lauten, unsicheren und die Menschen verunsichernden Zeit, medial mit Bildern überflutet und oft überfordert durch die Überfülle an gegensätzlichen Wert- und Sinnangeboten. Vielleicht können uns die ruhigen, menschenleeren Bilder von verlassenen, verfallenden, einst nützlichen und heute unnützen Orten helfen, zu äußerer Stille und innerer Ruhe zu kommen. Vielleicht können sie uns anregen, über den Zusammenhang von Werden und Vergehen nachzusinnen. Vielleicht kann uns beim Betrachten solcher Bilder die eigene Endlichkeit bewusst werden. Das wiederum könnte unser Nachdenken über die entscheidenden Werte und den Sinn unseres Lebens verstärken. Eine derart meditierende Betrachtung unserer neuen Ausstellung würde dann wie eine Art von Lebenshilfe wirken.
Burkhard Schade ist ein „Sammler des letzten Moments“. Aber mit dem letzten Moment ist nicht alles vorbei. Werden, Wachsen und Bauen gehen dem Verfall nicht nur voraus, sie können ihm auch folgen. Lassen Sie mich diese tröstliche Wahrheit mit drei Aussprüchen weiser Leute belegen:
Der antike griechische Philosoph Epiktet formulierte vor rund 1800 Jahren so: „Ruin und Wiederaufbau liegen dicht beieinander.“
Von Gotthold Ephraim Lessing stammt der Satz: „Die Ruinen des einen braucht die allzeit wirksame Natur zu dem Leben des anderen.“
Und Friedrich Schiller war sich sicher: „Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit, und neues Leben blüht aus den Ruinen.“
Das Gut Gödelitz selbst ist dafür ein beredtes Beispiel.
Aus einem einst erfolgreichen Unternehmen für Schafzucht waren verfallende Gebäude einer Trinkerheilanstalt geworden. Und dann ist aus dieser Ruine das neue Leben erblüht, in dem wir uns gerade befinden.
Liebe Freunde, meine Damen und Herren. Die 54. Kunstausstellung des ost-west-forum Gut Gödelitz bietet mit den Fotografien von Burkhard Schade über die „Farben des Verfalls“ viele und vielfältige Betrachtungs- und Wirkmöglichkeiten:
Diese Bilder können in uns ganz individuell und sehr unterschiedlich Erinnerungen auslösen. Sie können Fragen provozieren und zum Nachdenken anregen. Sie können ein Gefühl von Ruhe erzeugen und zur Besinnung ermutigen. Sie können Hoffnung auf gutes Neues machen. Sie können die Fantasie befördern und Freude an Schönem bereiten. Probieren wir es einfach aus.
Diese Bilder werden bis Ende November zu sehen sein. Am 10. Dezember wird unsere 55. Ausstellung eröffnet werden.
Erlauben Sie mir noch eine Anmerkung: In Vorbereitung auf den heutigen Vortrag von Dr. Michael Lüders habe ich ein zweites Mal sein aktuelles Buch über die USA als scheinheilige Supermacht gelesen. Darin beschreibt er an vielen faktengestützten Beispielen den Niedergang der USA als Weltmacht. Ich bewundere Michael Lüders auch als kenntnisreichen Sprach- und Sprechmeister. Wenn man statt Niedergang Verfall sagen würde, dann malt Michael Lüders mit Worten Bilder vom Verfall einer Weltmacht. Und so sah ich plötzlich einen inhaltlichen Bezug zwischen dem Vor- und dem Hauptprogramm der heutigen Veranstaltung, zwischen den Fotografien von Burkhard Schade und dem Blick von Michael Lüders auf die USA als Weltmacht. Nun freue ich mich wie Sie auf seinen Vortrag.
Die Arbeiten von Burkhard Schade werden auch bei der Novemberveranstaltung des „ost-west-forums Gut Gödelitz“ zu sehen sein. Besuche außerhalb von Veranstaltungen sind telefonisch unter 034325-20434 zu vereinbaren.