Laudatio: Prof. Dr. Wendelin Szalai
Liebe Mitglieder und liebe Freunde des ost-west-forum Gut Gödelitz, meine Damen und Herren,
im Namen des Vorstandes unseres Bürgervereins begrüße ich Sie alle zu einer neuen Veranstaltung in unserer monatlichen Samstagabendreihe. Die Stammbesucher unter Ihnen haben gewiss bemerkt, dass an den Wänden unserer Alten Schäferei neue und ungewöhnliche Bilder hängen. Unser Bürgerverein eröffnet eine neue Kunstausstellung. Es ist unsere 49. Zu sehen sind Arbeiten von Christiane Latendorf. Wir freuen uns, dass die Künstlerin nach Gödelitz gekommen ist und begrüßen sie ganz herzlich in unserer Mitte.
Ich möchte Ihnen Christiane Latendorf kurz vorstellen und zu ihren Arbeiten einige persönliche Anmerkungen machen. Christiane Latendorf stammt aus Anklam. Nach ihrer Schulzeit hat sie Apothekenfacharbeiterin gelernt. Dem folgte in Leipzig ein Studium zur Pharmazie-Ingeneurin. Parallel dazu hat sie an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst ein Abendstudium absolviert. Von 1992 bis 1997 war sie Studentin an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden. Sie hat mit einem Diplom für Malerei und Grafik abgeschlossen.
Christiane Latendorf malt und zeichnet gegenständlich, aber nicht naturalistisch. Ihre Formensprache ist reichhaltig. Sie wird aber nicht zum Abmalen von dem genutzt, was die Künstlerin vor sich sieht. Der von mir bei früheren Ausstellungseröffnungen bereits mehrfach zitierte Satz von Caspar David Friedrich, dass der Maler nicht nur das malen soll, was er vor sich sieht, sondern auch das, was er in sich sieht, passt sehr gut zur Arbeitsweise von Christiane Latendorf. Ihre Bilder scheinen das Ergebnis eines inneren Schauens zu sein, gewissermaßen abgemalte innerer Bilder. An der roten Wand hängt links ein kleines Bild mit dem Titel „Nach innen geschaut“. Das größere Bild daneben heißt „Vom Staub zum Licht“. Der Blick nach innen lässt uns also die Dinge klarer sehen, das Wesentliche deutlicher erfassen.
Worin aber besteht dieses innere Schauen? Der folgende Satz aus dem schönen Büchlein „Der kleine Prinz“ könnte die Erklärung sein: „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ Ich habe den Eindruck, dass Christiane Latendorf sowohl wie ein Kind mit reinem Herzen als auch wie ein Philosoph oder ein Guru mit tiefer Weisheit auf unsere Welt, unser Leben, unseren Alltag schaut – und dann in einfachen Bildern Großes und Tiefes ausdrückt – also Freude und Trauer, Hoffnung und Angst, Einsamkeit und Geborgenheit, Leben und Tod. Dieser Künstlerin gelingt in Bild und Wort das Einfache, das so schwer zu machen ist. Ihre Formensprache ist dabei realistisch und symbolisch zugleich. Diese symbolische Seite ihrer Bildsprache lädt uns Betrachter in besonderer Weise zu einem deutenden Sehen ihrer Bilder ein. Der Raum für unsere Phantasie, unsere Gedanken und Gefühle, für unsere Deutungen ist dabei unbegrenzt. Und diese Deutungen können von Betrachter zu Betrachter ganz unterschiedlich ausfallen.
Lassen Sie mich an einigen Bildern andeuten, was ich in ihnen sehe, wie ich sie für mich deute: An der Stirnseite hängt links ein großes Bild mit dem Titel „Viele Zeiten gesehen“.
Es ist dunkel gehalten und besteht aus Köpfen mit oft schreckhaft geöffneten Augen und Mündern. Für mich ist das ein Rückblick auf dunkle vergangene Zeiten, auf Zeiten von Hunger, Krieg, Vertreibung und Verzweiflung. Sind aber solche dunkle Zeiten für immer vorbei? Sind solche Gefahren für immer gebannt? Sind Frieden und Glück für immer garantiert? An der linken Wand sehen wir ein großes hochformatiges Bild. Auf dem kleinen Titelschild darunter steht „Der Todesengel“. Engel und Tod – wie passt das zusammen? Bedeutet denn Engel nicht himmlisches Glück? Die bildbeherrschende Figur trägt eine Art von Astronautenhelm. Ich denke an Weltraum, und mir kommen sofort die aktuellen Nachrichten über ein drohendes Wettrüsten im Weltraum in den Sinn. Die Gefahren für Leib und Leben, für Mensch und Natur, für unseren Planeten sind nicht gebannt, sondern eher noch größer geworden. Vieles in der derzeitigen Politik führender Weltmächte kommt mir wahnwitzig und irrsinnig vor. Warum denke ich bei dem Bild „Der Narr“ an der Stirnseite des Raumes sofort an den amerikanischen Präsidenten Trump?
Aber ich sehe in den Bildern unserer Ausstellung und in meinen durch sie ausgelösten inneren Bildern nicht nur Angst und Verzweiflung. Der kürzeste Text, den ich von Christiane Latendorf gefunden habe, lautet: „Ich saß auf einem Aste und fiele mir zu Laste, wenn nicht die Hoffnung wär.“ Hoffnung heißt auch das in helleren Farben gehaltene Bild an der Stirnseite. Die Gesichter sind fröhlich. Neues Leben gibt es bei Mensch und in der Natur.
Das Bild daneben ist mit „Apfel in Grün“ betitelt. Es drückt für mich Hoffnung und Zuversicht auf eine gute, eine ökologische, eine gesunde Zukunft aus. Als Utopie voller Hoffnung und Zuversicht deute ich das Bild mit dem Titel „Ende gut, alles gut“. Die Farben sind hell, die Gesichter fröhlich. Die Sonne scheint über Menschen, Tiere, Pflanzen.
Soviel zu einigen meiner Deutungsversuche. Manche Bilder dieser Ausstellung oder Teile von ihnen bleiben für mich unverstanden, magisch und rätselhaft. Aber auch das kann eine Seite von Kunst sein: Staunend, verwundert, angerührt, betroffen vor einem Kunstwerk zu stehen, ohne es gedanklich deuten zu müssen oder zu können .
Wir sollten uns zumindest für ausgewählte Bilder dieser Ausstellung Zeit nehmen zum Betrachten und zum Nachdenken, Zeit zum Nachspüren, was wir in diesen Bildern und damit vielleicht auch in uns selbst sehen können.
Apropos Zeit: Christiane Latendorf hat ihrer Gödelitzer Ausstellung den Titel „Zeitschichten“ gegeben. Bei einem alten Geschichtslehrer und Historiker wie mir löst das Wort „Zeitschichten“ viele Assoziationen aus. Das wäre ein eigenes abendfüllendes Programm. Aus Zeitgründen beschränke ich mich auf einige Gedanken dazu, was „Zeitschichten“ mit uns selbst und mit unserem ost-west-forum zu tun haben könnten.
Wir alle, die wir hier sitzen, befinden uns heute und hier in der gleichen Zeit, der gleichen Zeitschicht. in dem gleichen Jetzt, in der gleichen gemeinsamen Gegenwart.
Aber wir unterscheiden uns zeitlich durch unsere Vergangenheiten. Das Wort „Früher“ beinhaltet für jeden und jede von uns Unterschiedliches. Es weckt in uns unterschiedliche Erinnerungen. Als Achtzigjähriger trage ich in mir viel mehr und ganz andere Zeitschichten als die jungen Leute hier im Raum. Jeder und jede von uns hat eine ganz einmalige und unverwechselbare Lebensgeschichte, eine individuelle Biografie. Zeitschichten sind gewissermaßen aufeinander gestapelt. Frühere Zeitschichten beeinflussen spätere. Unsere Vergangenheit wirkt in unsere Gegenwart hinein. Weil wir in der gleichen Gegenwart mit unseren unterschiedlichen Vergangenheiten leben, unterscheiden sich auch unsere Erwartungen, unsere Hoffnungen und Befürchtungen für das Kommende, für das Später, für die Zukunft. Im Leben eines Menschen sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sind Früher, Jetzt und Später eng verwoben. Der 1855 verstorbene dänische Philosoph Soren Kierkegaard hat das so formuliert:„Das Leben kann nur in der Schau nach rückwärts verstanden, aber nur in der Schau nach vorwärts gelebt werden.“
In den Biografiegesprächen unseres Bürgervereins schaut man gemeinsam aus der gleichen Gegenwart auf die Zeitschichten ungleicher Vergangenheiten zurück. Dadurch lernt man sich besser kennen, versteht man sich besser und kann gemeinsam nach verantwortbaren zukunftsfähigen Wegen suchen.
Aber nicht nur unsere kleinen Lebensgeschichten, sondern auch die große Geschichte und Politik können besser verstanden und verantwortungsbewusster gestaltet werden, wenn die Prägungen großer Menschengruppen, von Völkern und Staaten durch unterschiedliche Zeitschichten, durch die jeweiligen Vergangenheiten, Berücksichtigung finden.
Das Hauptthema des heutigen Abends könnte vielleicht dafür ein Beispiel liefern. Es lautet „Europa, die USA und Russland“. Wir haben uns bereits in vier Veranstaltungen mit dem Verhältnis Deutschlands zu Russland beschäftigt. Zu den prägenden Zeitschichten dieses großen Landes, zu seiner langen Geschichte, speziell zu seiner Leidensgeschichte, gehören die Überfälle durch Napoleon und durch Hitlerdeutschland, die jeweiligen gewaltigen Opfer und die schwer erkämpften Siege. In seiner am 25. September 2001 in deutscher Sprache gehaltenen Rede im deutschen Bundestag hatte Putin Deutschland und dem Westen die Hand entgegen gestreckt. Wörtlich: „Das Herz Russlands ist für vollwertige Partnerschaft geöffnet.“ Deutschland, der Westen, hat diese gereichte Hand ausgeschlagen. Die NATO ist weiter an die russischen Grenzen herangerückt. Ist es da verwunderlich, wenn Russland sich bedroht fühlt? Wenn heute wieder deutsche Soldaten in antirussischer Ausrichtung an Stellen stehen , an denen vor 75 Jahren ihre Großväter als Aggressoren gestanden haben, das ist für Russland, für die leidgeprüfte russische Seele, schwer erträglich. Es ist in meinen Augen ein Zeichen von deutscher Geschichtsvergessenheit und eine Schande für deutsche Politik.
Natürlich ist es wünschenswert, dass Russland demokratischer, freiheitlicher und rechtsstaatlicher wird. Aber einen solchen politischen Wandel erreicht man nicht durch militärische Drohungen und wirtschaftliche Sanktionen, sondern durch Annäherung. Willy Brandt und Egon Bahr haben doch eine Politik des Wandels durch Annäherung erfolgreich praktiziert. In meinen Augen ist Deutschland mitschuldig an der gegenwärtigen Politik Russlands, die wir heute beklagen.
Liebe Freunde, meine Damen und Herren, ich habe bisher davon gesprochen, was ich in den Bildern unserer neuen Ausstellung sehe, was sie und das Thema „Zeitschichten“ in mir an Gedanken und Gefühlen auslösen. Ich war neugierig, was Christiane Latendorf beim Schaffen dieser Bilder und bei dem von ihr gewählten Thema „Zeitschichten“ in sich gesehen hat, wie ihre Gedanken und Gefühle gewesen sind. In Vorbereitung auf unser zweites Ateliergespräch habe ich sie genau das gefragt. Ihre Antwort bestand aus einem fünfseitigen Text, in schöner Handschrift auf schönem Papier. Wo findet man heute noch so etwas – ein Text in schöner Handschrift auf schönem Papier? Aus diesem poetischen Text möchte ich einige kurze Ausschnitte zitieren:
„Zeiten sind wie Bilder. Sie setzen sich fest und tauchen irgendwann wieder auf. Zeitschichten umarmen uns, von Generation zu Generation weitergegeben. Fast zerquetscht werden wir von den zuvor gelebten Momenten der Ahnen. Die Zeitschicht wird zur Treppe. Jede Stufe ein Schritt, jeder Schritt ein Maß, jedes Maß ein Punkt, jeder Punkt die Unendlichkeit. Nichts ist schöner als in den Zeitschichten zu tauchen und sein eigenes Dasein zu verstehen. Ich finde Vertrauen zu meinem Leben und zu anderen Wesen. Die Ahnen geben mir die Hand.“
Soweit die Selbstaussagen der Künstlerin zu unserer neuen Kunstausstellung. Lassen Sie mich meine Laudatio auf Christiane Latendorf mit einem irischen Segensgruß schließen. Er heißt „Nimm Dir Zeit“ und geht so:
„Nimm Dir Zeit zu arbeiten – das ist der Preis des Erfolges.
Nimm Dir Zeit zum Denken – das ist die Quelle der Macht.
Nimm Dir Zeit zu spielen – das ist das Geheimnis der ewigen Jugend.
Nimm Dir Zeit zu lesen – das ist die Grundlage der Weisheit.
Nimm Dir Zeit, freundlich zu sein – das ist der Weg zum Glück.
Nimm Dir Zeit zu träumen – das ist der Weg zu den Sternen.
Nimm Dir Zeit zu lieben und geliebt zu werden – das ist die wahre Lebensfreude.
Nimm Dir Zeit zu lachen – es ist die Musik der Seele.“
Meine Damen und Herren, liebe Freunde, damit ist die 49. Kunstausstellung des ost-west-forum Gut Gödelitz eröffnet. Sie wird bis Monatsende November zu sehen sein. Dann können ausgestellte Arbeiten gekauft werden. Auf zwei Tischen bietet Christiane Latendorf bereits heute und bei der nächsten Veranstaltung kleinformatige Arbeiten an, von der Postkarte bis zur Keramikschale.
Schauen Sie sich das einfach an.
Im Namen unseres Vorstandes wünsche ich Ihnen eine gute Zeit.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.