“Wolfgang Thierse sagt, Ostdeutschland steht auf der Kippe. Ökonomisch ist die Entwicklung genau genommen schon 1996 gekippt. Denn seither liegen die Wachstumsraten der Ostdeutschen deutlich unterhalb derjenigen der westdeutschen Länder. Die neuen Länder holen also seit mehr als fünf Jahren nicht mehr auf, sondern fallen Jahr für Jahr zurück. Von Angleichung keine Spur. Die Entfernung wächst.” Das schrieb unter dem provozierenden Titel: “Arbeitsamtssozialismus statt Marktwirtschaft” unser Gast, Dr. Claus Noé, Publizist und ehemaliger Staatssekretär im Bundesministerium für Finanzen.
Dr. Claus Noé ist ein klarsichtiger und unbequemer Mann. Er tritt allen auf die Füße, die mit dem Ruf: “Alles wird gut!” und “Ruhe ist die erste Bürgerpflicht!” die wirtschaftliche Lage in Ostdeutschland schönreden wollen. Er hat einige Freunde, aber auch eine Menge Gegner – in der Sache jedoch widerspricht ihm kaum jemand. Die Ähnlichkeit seiner im Oktober 2000 in der Zeitschrift Lettre International veröffentlichten Analyse mit dem sogenannten Thierse-Papier ist jedenfalls verblüffend.
Was ihn für uns alle interessant macht, ist nicht nur seine scharfsinnige Kritik an früheren Entscheidungen und gegenwärtiger Ratlosigkeit. Spannend sind vor allem seine Vorschläge, wie das Ruder jetzt noch herumgeworfen werden kann. Obwohl diese Vorschläge von den meisten Fachleuten geteilt werden, weichen die Regierenden aus – weil die Verwirklichung zusätzlich Geld kostet. Das jedoch ist mit der gegenwärtig in Bund und Ländern betriebenen Finanzpolitik offensichtlich nicht vereinbar. Was also tun?
Claus Noé, geboren 1938 in Mannheim, absolvierte von 1959 bis 1963 in Heidelberg und Mannheim ein ungewöhnlich breitgefächertes Studium in den Fächern Ökonomie, Staatsrecht, Völkerrecht, Geschichte, Germanistik und Politische Wissenschaft. 1967 promovierte er zum Dr.phil. mit einer Arbeit über die “Tarifautonomie in Deutschland”. Seine Berufslaufbahn begann 1962 als politischer Redakteur beim “Mannheimer Morgen”. Nach seiner Promotion arbeitete er bei der SPD-Bundestagsfraktion. Unter dem damaligen Fraktionschef Helmut Schmidt wurde er 1967 Sprecher in der Fraktionspressestelle mit Zuständigkeit für den Fachbereich Wirtschaftspolitik. 1969 wurde er Unterabteilungsleiter im Bundeswirtschaftsministerium als Experte für Struktur- und Arbeitsmarktpolitik. Von 1987 bis 1994 war er Staatsrat (Staatssekretär) in der Wirtschaftsbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg. Daneben machte er sich 1990 einen Namen als Publizist und freier Mitarbeiter der Hamburger Wochenzeitung “Die Zeit”, für die er vor allem wirtschafts- und finanzpolitische Beiträge schrieb.
Zu Beginn der deutschen Wiedervereinigung war Claus Noé einer der ersten, der auf Schwächen der Bonner Wirtschaftspolitik hinwies. Ab November 1989 fungierte Noé auch als Wirtschaftsberater des Wahlkampfteams um Oskar Lafontaine (SPD). Nach dem Machtwechsel in Bonn im September 1998 wurde er neben Heiner Flassbeck einer der beiden beamteten Staatssekretäre im Bundesfinanzministerium unter dem neuen Ressortchef Oskar Lafontaine, der in der neuen rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder mit seinem zur “Treasury” aufgewerteten Ministerium von Anfang an besonderes politisches Gewicht beanspruchte. Nach dem Rücktritt von Oskar Lafontaine als Bundesfinanzminister im März 1999 mussten auch seine Staatssekretäre Heiner Flassbeck und Claus Noé ihre Stühle räumen.
Werke und Veröffentlichungen: u.a. ” Kommentar zum Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft” (1968), “Gebändigter Klassenkampf – Tarifautonomie in der Bundesrepublik Deutschland” (1970), “Mark für Markt, Mark für Macht” (1991), “Die große deutsche Illusion. Zehn Jahre Einheitspolitik – Zehn Jahre ökonomische Täuschung” in Lettre International, Heft 50.