Europa braucht überzeugte Europäer – ohne tiefgreifende demokratische und soziale Reformen hat Europa keine Zukunft

Veranstaltung am 17. Mai 2014

Vortrag und Diskussion mit Professor Dr. Gesine Schwan, Präsidentin der Humboldt-Viadrina School of Governance

Als der 2. Weltkrieg mit über 50 Millionen Toten zu Ende war, gab es unter den Überlebenden Männer und Frauen, die eine Vision hatten: Die Vereinigten Staaten von Europa.Diese Vereinigung sollte das größte Friedensprojekt werden, was dieser blutgetränkte Kontinent jemals errichtet hat. Der Brite Winston Churchill, der Italiener Alcide De Gasperi, die Franzosen Robert Schuman und Jean Monnet, der Deutsche Konrad Adenauer und viele andere wurden die Architekten und Bauherren der Europäischen Union. In enger Zusammenarbeit mit Frankreich haben alle Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland und ihre Parteien das Europäische Projekt mit großer Selbstverständlichkeit politisch und finanziell getragen. Dies auch zum Nutzen unseres Landes: Dauerhafter Frieden, Freizügigkeit und wirtschaftliche Prosperität waren die Früchte dieser klugen, visionären Politik.

Heute kämpfen wir gegen die schwerste Krise, die Europa seit seiner Gründung zu bewältigen hat. Unkontrollierte Finanzmärkte zogen eine Wirtschafts-und Währungskrise nach sich, denen die heutige Politikergeneration offenbar hilflos gegenübersteht. Der Geist ist aus der Flasche – die international agierenden Finanzmärkte wieder einzuhegen gelingt nicht, allen Gipfeln und ihren Versprechungen zum Trotz. Die finanziellen Hilfeleistungen für die südeuropäischen Staaten sind an eine Sparpolitik gekoppelt, die deren Wirtschaft weiter ruiniert, die Masse der Bevölkerung in die Armut und die Hälfte der jungen Menschen in die Arbeitslosigkeit treibt. Das wird sich als eine Zeitbombe erweisen.
Was hingegen Konjunktur hat, ist kleinkarierte Kritik an Europa: Die Krümmung der Gurken, das anvisierte Verbot der Ölkännchen, die noch abschreckenderen Zigarettenpackungen. Und eine dümmlich- nationalistische Häme gegenüber den „faulen“ Griechen und all den anderen europäischen Nachbarn, die ihre Wirtschaft nicht in den Griff bekommen. Ein Teil der Medien – BILD wie immer an vorderster Front – aber leider auch etliche Politiker, übertreffen sich in dieser populistischen Haltung, weil sie sich für Auflagen, Quoten, und Wahlkämpfe einen Profit erhoffen.

Für Altkanzler Helmut Schmidt, einem überzeugten Europäer, ist klar: Deutschland profitiert am meisten von Europa. Aber es mangelt an Führung, es mangelt an mutigen Politikern, die den Menschen reinen Wein einschenken und offen erklären: Wir müssen Europa finanzieren, das ist die traditionelle Rolle unseres Landes. Wir müssen helfen, die Altschulden der Krisenstaaten zu tilgen und für Transferzahlungen bereit sein. Unterlassen wir das, wird die Re-Nationalisierung in Europa zunehmen, die Europäische Union wird von innen zerfasern, das große Projekt wird scheitern – an der Feigheit der politischen Führung. Und: Wenn wir die Einheit nicht schaffen, wird Europa weltpolitisch keine Rolle mehr spielen.

Die Europa-Gegner nehmen zu, sie reden beständig davon, was sie alles abschaffen wollen. Was die Pro-Europäer wollen, erfahren wir nicht. Das wird sich nur ändern, wenn wir es lautstark einfordern.
Wir freuen uns, Frau Professor Schwan auf Gut Gödelitz begrüßen zu dürfen.


Zur Person:

Gesine Schwan wurde 1943 in Berlin geboren. Sie stammt aus einer sozial engagierten Familie, die im Nationalsozialismus protestantischen und sozialistischen Widerstandskreisen angehörte.
Nach dem Krieg setzten sich ihre Eltern für die Freundschaft mit Frankreich und Polen und für die europäische Verständigung ein. Gesine Schwan besuchte das Französische Gymnasium in West-Berlin, an dem sie 1962 das Abitur ablegte. Anschließend studierte sie Romanistik, Geschichte, Philosophie und Politikwissenschaft in Berlin und Freiburg/Breisgau. Zur Vorbereitung ihrer Dissertation über den polnischen Philosophen Leszek Kolakowski (“Eine Philosophie der Freiheit nach Marx”) folgten Studienaufenthalte in Warschau und Krakau, wo sie in Kontakt mit polnischen Dissidenten stand. In dieser Zeit lernte sie Adam Michnik und Bronislaw Geremek kennen, später auch Wladislaw Bartoszewski. Diese Erfahrung prägte Gesine Schwans kritische Haltung zum Kommunismus.1970 schloss sie ihre Promotion ab. Ab 1971 war Gesine Schwan Assistenz-Professorin am Fachbereich Politische Wissenschaft der Freien Universität Berlin und habilitierte sich 1975 über die philosophischen und politökonomischen Voraussetzungen der Gesellschaftskritik von Karl Marx. Ab 1977 lehrte sie als Professorin für Politikwissenschaft, insbesondere für politische Theorie und Philosophie, an der Freien Universität Berlin. Forschungsaufenthalte in Washington D.C., Cambrigde und New York folgten. 1992 wurde Gesine Schwan zur Dekanin am Otto-Suhr-Institut gewählt und blieb dies bis 1995. Schwerpunkte ihrer wissenschaftlichen Arbeit sind Politische Philosophie und Demokratietheorien, in jüngster Zeit auch Fragen der Politischen Psychologie und der Politischen Kultur.

Von Oktober 1999 bis September 2008 war Gesine Schwan Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Im Januar 2005 übernahm Gesine Schwan das Amt der Koordinatorin der Bundesregierung für die grenznahe und zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit mit Polen, das sie bis September 2009 ausübte. Sie ist zudem Mitglied des Kuratoriums der deutsch-polnischen Wissenschaftsstiftung, deren Gründung sie maßgeblich vorangetrieben hat.

Gesine Schwan gründete u.a. mit Stephan Breidenbach und Alexander Blankenagel die HUMBOLDT-VIADRINA School of Governance im März 2009 und ist mit Wirkung zum 15. Juni 2010 vom Board of Trustees zur Präsidentin der School gewählt worden. Die HUMBOLDT-VIADRINA School of Governance bietet seit November 2009 den berufsbegleitenden „Master of Public Policy“ an.

Politisches Engagement:
Gesine Schwan trat 1972 unter dem Eindruck von Willy Brandts Ostpolitik in die SPD ein. Sie war im Seeheimer Kreis in der SPD aktiv, der in den 70er Jahren neomarxistischen Positionen in der Partei entgegentrat.
Neben ihrer wissenschaftlichen Karriere arbeitete sie in zahlreichen politischen Gremien mit. Von 1977 bis 1984 und erneut seit 1996 ist sie Mitglied der Grundwertekommission beim Parteivorstand der SPD. Von 1985 bis 1987 hatte Gesine Schwan den Vorsitz der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft (DGfP) inne, 1994 bis 2000 war sie Mitglied des Vorstandes der Deutschen Vereinigung für politische Wissenschaft (DVPW).Gesine Schwan ist darüber hinaus:
Mitglied des Kuratoriums der Theodor-Heuss-Stiftung (seit 1994)
Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats des Centre Marc Bloch in Berlin (seit 2001)
Mitglied im Senat der Max-Planck-Gesellschaft (seit 2005)
Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des CIERA (Centre interdisciplinaire d’études et de recherche sur l’Allemagne) (seit 2006)
Mitglied der Académie de Berlin (seit 2006)
Mitglied des Kuratoriums der Haniel Stiftung (seit 2006)
Mitglied des Kuratoriums des Stein-Preises der Alfred Töpfer Stiftung (seit 2007)
Mitglied des Kuratoriums des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB) (seit 2008).
2004 wurde Gesine Schwan mit dem Marion Dönhoff Preis für internationale Verständigung und Versöhnung ausgezeichnet. Am 30. September 1993 wurde ihr das Verdienstkreuz 1. Klasse des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen. Am 4. Oktober 2002 verlieh ihr der Bundespräsident dann die nächsthöhere Stufe des Verdienstordens, das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland. 2006 wurde Gesine Schwan mit der Ehrendoktorwürde des Europäischen Hochschulinstituts Florenz für ihre Verdienste um das Zusammenwachsen der Wissenschaftskulturen in Europa geehrt. 2010 erhielt sie die Goldene Ehrennadel der Stiftung Frauenbrücke-Preis für die innere Einheit in Deutschland sowie den Hedwig-Preis der Universität Breslau und der Stadt Breslau für ihre Verdienste um die deutsch-polnische Verständigung. 2011 wurde ihr der Winfried-Preis der Stadt Fulda für völkerverbindende Leistungen verliehen.
2004 und 2009 kandidierte sie für das Amt der Bundespräsidentin. Beide Male scheiterte sie im 1. Wahlgang gegen Horst Köhler.
Publikationen
Gesine Schwan publiziert seit Beginn ihrer wissenschaftlichen und politischen Tätigkeit regelmäßig. Die wichtigsten ihrer jüngeren Publikationen sind:- Woraus wir leben. Das Persönliche und das Politische (gemeinsam mit Christian Geyer; Piper, .2009)
– Allein ist nicht genug. Für eine neue Kultur der Gemeinsamkeit (gemeinsam mit Susanne Gaschke; Herder, 2007)
– Demokratische Politische Identität. Deutschland, Polen und Frankreich im Vergleich (Hrsg.; Verlag für Sozialwissenschaft, 2006)
– Antikommunismus und Antiamerikanismus in Deutschland. Kontinuität und Wandel nach 1945 (Nomos, 1999)
– Politik und Schuld. Die zerstörerische Macht des Schweigens (Fischer, 1997).

Quelle: www.gesine-schwan.de