Literatur in zwei Gesellschaftssystemen

Können Sie sich eine Kabinettssitzung vorstellen, in der sich die Bundesregierung intensiv mit einem Buchmanuskript befasst – und mit der Frage, ob dies veröffentlicht werden kann? Wohl kaum. In der DDR kam dies vor – selbst das Politbüro beschäftigte sich immer mal wieder mit geplanten Veröffentlichungen wichtiger Autoren: Kommunisten hatten Respekt vor der Macht der Bücher.


 

Einige Autorinnen oder Autoren verfügten über große moralische Autorität. Selbst bei hohen Auflagen waren ihre Bücher schnell vergriffen, und es sprach sich sofort herum, wenn sie im Text ideologische Vorgaben verletzt oder die real existierenden Verhältnisse in der DDR offen oder versteckt kritisiert hatten. Wer das, was er oder sie als die eigene Wahrheit begriff, schreiben wollte, musste sich auf harte Zeiten einstellen.
Und wie sieht das bei uns in der Bundesrepublik Deutschland aus? Wir sind ein freies Land, jeder kann schreiben, was er will. Fast alles. Ob es veröffentlicht wird, ob es Beachtung findet, ist eine andere Frage. Das hängt von den Verlagen und von den Medien ab und ist mit vielen Unwägbarkeiten verbunden. Qualität kann Erfolg haben – oder aber der „Knüller“ eines Fußballspielers, dessen Lebenserkenntnisse ein Ghostwriter zu Papier gebracht hat. Die Masse der Veröffentlichungen ist leichte Kost.

Anerkannt in Ost und West

Wenige Schriftsteller aus der DDR haben die Wende beruflich überlebt. Zu ihnen gehört Christa Wolf. Ihre literarische Arbeit fand stets Anerkennung – sowohl in der DDR, als auch in der Bundesrepublik. Aber sie hatte auch Gegner: In der DDR, weil sie die offizielle Politik zunehmend kritisch begleitete und sich nicht instrumentalisieren ließ. Im vereinten Deutschland hingegen meinten einige, in ihr die angepasste Staatsschreiberin erkennen zu müssen, die in jungen Jahren auch noch eine – kurzfristige und oberflächliche – Liaison mit der Stasi eingegangen war. Dass sie jahrzehntelang bespitzelt wurde – dokumentiert in 42 Aktenordnern – wird dabei mitunter gerne vergessen.

Christa Wolfs Schaffen, ihre literarischen Erfolge, ihre Kämpfe und Selbstzweifel – ohne die menschliche und fachliche Unterstützung und Ermutigung ihres Ehemannes Gerhard Wolf wäre manches nicht möglich und vieles nicht zu ertragen gewesen. Dabei hat auch Gerhard Wolf seine eigene berufliche Karriere, sein eigenes literarisches Schaffen und später – im vereinten Deutschland – sogar seinen eigenen Verlag.

Wir haben deshalb Christa und Gerhard Wolf eingeladen. Kaum jemand kann aus der eigenen Erfahrung so kompetent wie sie über das Thema sprechen, das bisher fast unbeachtet geblieben ist.


Zu Christa und Gerhard Wolf:
Christa Wolf wird 1929 als Tochter eines Kaufmanns in Landsberg an der Warthe geboren. Von 1949 bis 1953 studiert sie Germanistik in Jena und Leipzig. 1949 Eintritt in die SED. 1951 heiratet sie ihren ein Jahr älteren Kommilitonen Gerhard Wolf und geht mit ihm eine bis heute fortbestehende produktive Lebens- und Arbeitsgemeinschaft ein. 1952 wird die erste Tochter Annette geboren, Katrin (Tinka) folgt 1956.
Nach beendetem Studium arbeitet Christa Wolf bis 1959 als wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Deutschen Schriftstellerverband, ab 1956 zusätzlich als Cheflektorin des Verlags „Neues Leben“ und als Redakteurin der Zeitschrift „Neue Deutsche Literatur“. 1959 bis 1962 arbeitet sie als freie Mitarbeiterin des Mitteldeutschen Verlags in Halle.
Um die Familie durchzubringen, unterbricht Gerhard Wolf 1951 sein Studium und arbeitet als Redakteur für Literatur beim Rundfunk Sender Leipzig und beim Deutschlandsender Berlin. 1953 setzt er sein Studium der Germanistik an der Humboldt Universität zu Berlin fort und beendet es 1956. 1956/57 ist er Leiter der Abteilung Kulturpolitik beim Deutschlandsender Berlin. Seit 1957 arbeitet er als freischaffender Lektor (Mitteldeutscher Verlag, Halle), Herausgeber und Schriftsteller.
1961 veröffentlicht Christa Wolf ihr erstes Prosawerk Moskauer Novelle, das in der DDR große Beachtung erlangt, in der Bundesrepublik allerdings nicht veröffentlicht wird. Es folgt 1962 der Roman Der geteilte Himmel, der sich mit den politischen und menschlichen Problemen im geteilten Deutschland auseinandersetzt. Dieses Buch begründet ihren weit über die DDR hinausreichenden Erfolg. 1963 wird sie dafür mit dem Heinrich-Mann-Preis ausgezeichnet. 1964 wird die Geschichte verfilmt.
1963 wird sie Kandidatin des Zentralkomitees der SED. Nach einer kritischen, mutigen Rede zum 11. Plenum 1965 scheidet sie aus dem Gremium wieder aus.
Sie widmet sich nunmehr vor allem dem Schreiben: 1968 folgt die Erzählung Nachdenken über Christa T., in der der Konflikt zwischen der historischen Entwicklung der Gesellschaft und den individuellen Ansprüchen der Hauptfigur geschildert wird.
1974 wird sie Mitglied der Akademie der Künste der DDR, Gerhard Wolf erhält den Heinrich-Mann-Preis der Akademie der Künste der DDR. Ab 1981 ist Christa Wolf auch Mitglied der Akademie der Künste in West-Berlin.
1976 unterzeichnet das Ehepaar Wolf den Protestbrief gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann. Gerhard Wolf wird daraufhin aus der SED ausgeschlossen, Christa Wolf muss den Vorstand der Berliner Sektion des DDR-Schriftstellerverbandes verlassen.
Im selben Jahr veröffentlicht sie den autobiografischen Roman Kindheitsmuster, in dem sie sich mit dem Nationalsozialismus, mit der deutschen Schuld und mit der Notwendigkeit historischer Erinnerung auseinandersetzt. Seit 1978 folgen Gastvorträge in den USA, in Schottland, in Italien, in der Schweiz und in der Bundesrepublik Deutschland. 1983 erscheint der Roman Kassandra, in dem die Frau als treibende Kraft der friedlichen Zukunftsgestaltung tragendes Thema ist. Mit der Erzählung Störfall 1987 setzt sie sich mit der Atomkatastrophe von Tschernobyl auseinander.
Als die DDR-Führung Christa Wolf 1987 mit dem Nationalpreis 1. Klasse für Kunst und Literatur ehrt, hat die Schriftstellerin längst die Hoffnung auf die Reformfähigkeit der SED verloren. Im Juni 1989 tritt sie aus der Partei aus. Ab jetzt widmet sie sich der zukünftigen Gestaltung der DDR. In öffentlichen Reden und Pressegesprächen, mit der Arbeit an den Runden Tischen hofft sie auf eine demokratische Erneuerung ihres Landes.
Mit der Vereinigung der beiden Deutschen Staaten verloren die Runden Tische ihre Gestaltungskraft. Eine differenzierte Sicht auf das Leben in der DDR war kaum noch möglich. Auch Christa Wolf geriet als „Staatsschriftstellerin“ in die Schusslinie. Als sie in einem Interview bekennt, als junge Frau von 1959 bis 1962 informelle Mitarbeiterin für den Staatssicherheitsdienst der DDR gewesen zu sein, fällt ein Teil der westdeutschen Medien massiv über sie her. Dass selbst die Gauckbehörde diese lang zurückliegende Mitarbeit als leichtgewichtig ansieht und auf die 42 Bände Opferakten hinweist, die von der Stasi über Christa und Gerhard Wolf angelegt worden waren, findet ein Teil der Kritiker nicht erwähnenswert.
1994 folgt eine Sammlung von Texten aus den letzten vier Jahren, die sehr intim ihre Empfindungen und Verletzungen seit der Vereinigung Deutschlands wiedergeben.
1996 veröffentlicht Christa Wolf den Roman Medea – Stimmen, was wiederum zu einer Diffamierungswelle in einem Teil der westdeutschen Medien führt. Rita Süssmuth lädt Christa Wolf daraufhin demonstrativ zu einer Medea-Lesung in den Deutschen Bundestag ein.
Im Frühjahr 2002 folgt die Erzählung Leibhaftig. 2003 erscheint Ein Tag im Jahr, in dem Christa Wolf vierzig Jahre lang jeden 27. September protokolliert – was sie an diesem Tag erlebt, gedacht und gefühlt hat. Es ist wohl ihr persönlichstes Werk.
Gerhard Wolf, der Ehemann und liebevoll kritisch-intellektuelle Partner seiner Frau, gründet 1990 seinen eigenen Verlag, den Verlag Gerhard Wolf Janus press GmbH Berlin. Er wird zum Ehrenmitglied der Sächsischen Akademie der Künste berufen. 1994 wird ihm der Rahel-Varnhagen-von-Ense-Preis der Stadt Berlin verliehen. In einer jüngst zusammengestellten Bibliographie ist sein großes Werk zusammengefasst.