Freitag Ost-West-Wochenzeitung – Wenn alles ins Rutschen kommt

10. Dezember 2004

Im Bruch der Zeiten wandelte sich Leben in Davor und Danach. Träume wurden wahr oder zu Albträumen, manchmal entstand aus Enttäuschung auch Mut.


Im ersten Telefonat landet das Gespräch ziemlich schnell bei der DDR, dem “unerträglich selbstgerechten Umgang” mit ihrer Geschichte, bei den Vorzügen der DDR-Frauen, bei der Verwahrlosung der heutigen Gesellschaft, bei der Unfähigkeit in Wirtschaft und Politik. “Das ist nicht hinnehmbar”, stellt der Mann am anderen Ende der Leitung fest, und dass die Zeichen des Systemverfalls unübersehbar seien. Ja, sage ich, wohl wahr, und werde neugierig. Wer ist dieser spontane und unverblümte Westmensch.

Axel Schmidt-Gödelitz, bis 2003 Mitarbeiter der Friedrich Ebert-Stiftung in Berlin, davor in Peking und Kairo, in den siebziger Jahren in der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in der DDR, Politologe, aufgewachsen in Hessen, geboren im sächsischen Gödelitz. Stationen eines überschaubaren Lebens. So wäre es weitergegangen. Noch einmal ins Ausland, dort ein Einsatz, dann ein Karrieresprung, immer engagiert, immer präsent, irgendwann der Rückblick: Das war es also.

Doch dann werden im Stellwerk der Geschichte die Weichen neu gestellt. Am 10. November 1989 sitzt Axel Schmidt-Gödelitz in einem Hotel in Peking. Er ist müde. Kein leichter Tag für den Mann der Friedrich-Ebert-Stiftung: Verhandlungen mit den chinesischen Partnern – ein Politik-Parcours zwischen Diplomatie und Protest. Seit den Schüssen auf dem Platz des Himmlischen Friedens geht es darum, ob die Stiftung bleibt oder nicht. Moral und Politik – wie pragmatisch darf eine Entscheidung sein? Axel Schmidt-Gödelitz wird sie vorerst nicht treffen. Er ist vorsichtig mit schnellen Urteilen, fragt und analysiert, registriert Nuancen, sucht Klarheit und Konsens. Es ist seine Art, es sind Erziehung und Erfahrung. Sechs Jahre, bis 1981, hat er mit Günter Gaus in der Ständigen Vertretung zusammengearbeitet. “Eine absolut prägende Zeit”. Ein Politikseminar für Toleranz, Offenheit und Menscheninteresse. Schmidt-Gödelitz wird ein Versteher des Lebens in der DDR. Er sympathisiert mit dem Anspruch sozialer Gleichheit und Gerechtigkeit, lernt zwischen Mensch und System zu unterscheiden. Er schließt Freundschaften fürs Leben.

An jenem Novembertag sitzt er auf dem Fußboden eines Pekinger Hotels vor dem Fernsehapparat, sieht Menschen auf der Berliner Mauer tanzen – und es ist kein Spielfilm. “Ich habe das erst nicht kapiert. Die Realität erreichte mich später.” Sie wird sein Leben gründlich verändern. Im Februar 1990 ist er wieder zu Hause. Jetzt das ganze Berlin nebst Potsdam. In beiden Städten leitet er zunächst die Büros, später bis 2003 das Berliner Forum der Stiftung. Und dann ist da Gödelitz. Eine kleine Ansammlung von Häusern und Ställen inmitten sanfter Hügel und weiter Felder zwischen Leipzig und Meißen. Lommatzsche Pflege wird die Gegend genannt. Eine friedvolle und fruchtbare Landschaft. Gödelitz, das ist Heimatgefühl und Kindersehnsucht. Gegenwärtig in den Erzählungen von früher, die es in jeder Familie gibt. Erinnerung in schönen Bildern und mit dem Stachel des “nie mehr”.

1917 kauft der Landwirt Max Schmidt das Gut Gödelitz und macht es zu einem landwirtschaftlichen Musterbetrieb. 1937 übernimmt sein Sohn Helmut das Anwesen. 1945/46 wird der 160 Hektar große Betrieb durch die Bodenreform enteignet. Im östlichen Nachkriegsdeutschland hält man sich an den Beschluss des Potsdamer Abkommens, Besitz über 100 Hektar entschädigungslos zu enteignen. Das trifft meistens die Richtigen und ist nur manchmal ungerecht. Gödelitz wird Staatsgut. Die Familie geht in den Westen. In den fünfziger Jahren wird der Familienname zu Schmidt-Gödelitz erweitert. Ein ziemlich aussichtsloser Anspruch, vor allem aber alte Anhänglichkeit.

Die Wende belohnt diese Anhänglichkeit und scheint den Anspruch zu bestätigen. Aber das Prinzip “Rückgabe vor Entschädigung” schließt Bodenreformland ausdrücklich aus – eine Bedingung der Sowjetunion in den Verhandlungen über die deutsche Einheit, heißt es. Das Geschäft macht nun die Treuhand. Landbesitz ist nach 40 Jahren Auszeit wieder profitabel. Beträchtliche Teile des DDR-Vermögens, auch Bodenreformland, wandern in den Supermarkt der Einheit. Wer Geld und Beziehungen hat, wird bestens bedient. Familie Schmidt-Gödelitz hat von beidem etwas. Vor allem aber hat sie einen Traum: Zurück nach Gödelitz. Das macht hartnäckig und erfinderisch.

Axel Schmidt-Gödelitz begibt sich in den Dschungel der Vereinigungsbürokratie. Auf den Fluren der kommunalen Verwaltung, in den Gängen der Landesregierung, im Foyer der Treuhand erlebt er verzweifelte Häuschenbesitzer, energische Geschäftsleute, windige Spekulanten. Die Einheit von unten. Manchmal schämt er sich für seine westlichen Mitbürger vor und hinter den Schreibtischen. Den Ostlern möchte er sagen: Mensch, wehrt euch doch, und den Westlern: Hört auf mit den Siegerallüren. “Der Westen ist eine Verkaufsgesellschaft, das heißt auch, sich selbst gut zu verkaufen. In der DDR war die Prägung anders – vom Ich zum Wir. Weg von Egoismen und Ellenbogenmentalität. Das kann sehr produktiv und angenehm sein, wenn es nicht die Individualität platt macht”. Er weiß, wovon er spricht – seine zweite Frau ist aus der DDR. Kennen gelernt haben sie sich auf einer Demonstration und dort gab sie ihm eine Banane – “hier hast du eine zurück.” Aus all diesen Erfahrungen entstehen die Biographie-Gesprächsrunden in der Friedrich-Ebert-Stiftung, die er später im Ost-West-Forum Gut Gödelitz erfolgreich weiterführen wird.

Aber noch ist Gödelitz Treuhandbesitz. Die Familie berät: Was wollen wir, was können wir. Sie wollen Gödelitz. Also “haben alle zusammengelegt. Jeder hat gegeben, was er konnte. Einer hatte hundert, ein anderer hunderttausend.” Das sind schon Unterschiede. Trotzdem habe jeder unabhängig von der Summe den gleichen Anteil am Gut, das 1992 gekauft wird, acht Hektar und zehn Gebäude. Seinen 50. Geburtstag feiert er in seinem Geburtshaus. Schön. Ja, schön verrückt, finden Freunde und Bekannte, und manchmal denkt er das auch.

Er hat kein sorgsam gepflegtes Anwesen gekauft, sondern einen Haufen mehr oder weniger kaputter Häuser, einen Schrottplatz ausrangierter Landtechnik – der Garten ist eine Müllhalde. Aber Axel Schmidt-Gödelitz sieht andere Bilder. Das Haus mit neuem Dach, altrosa Putz, innen hell und großzügig ausgebaut, Weinlaub an den Stallwänden, eine Sitzecke in der Sonne, eine andere im Schatten alter Bäume. Er sieht Menschen aus Ost und West, die sich ihre Biographien erzählen, das Leben im jeweils anderen Land besser verstehen und vielleicht respektieren. Er sieht Politiker, Wirtschaftsleute, Künstler, Wissenschaftler und Schriftsteller, die Ideen diskutieren und Alternativen für das Land entwickeln, ehe es ganz und gar verkommt. Er schaut in die Zukunft. Ein Träumer, der genau weiß, was er will – und es macht.

Er wird Pendler: Berlin, Potsdam, Gödelitz. Er ist Manager, Entrümpler, Buchhalter, Bauarbeiter, Landwirt. “Die Subventionsgießkanne ging an uns vorbei. Wir haben hart gearbeitet.” Gödelitz wird wie die Bilder seiner Phantasie. Johanna Schmidt-Gödelitz, die Seniorin der Familie, Barbara, Axels Schwester, und ihr Mann, ziehen ein. Mit Charme und fester Hand führen die Frauen das Haus, den Familienbetrieb. Gäste sind hier Freunde. 1998 wird das “OST-WEST-FORUM Gut Gödelitz e.V.” gegründet.

“Die deutsche Einheit ist ein Geschenk der Geschichte”, sagt Axel Schmidt-Gödelitz, und es klingt nicht pathetisch. “Aber wie gehen wir damit um? Wir sollten uns bewusst sein, dass sich die Menschen in Ost und West weitgehend fremd geblieben sind.” Er nennt die Fehler und Verletzungen: Abgewickelte und verscherbelte Betriebe, Menschen massenhaft auf die Straße gesetzt, Arbeitsbiografien vollständig entwertet. Er sei sich nicht sicher, ob schicke neue Straßen, riesige Konsumtempel, ob selbst die unbestrittenen bürgerlichen Rechte und Freiheiten diesen Umgang mit dem DDR-Leben rechtfertigen. Eine Enthauptung der ostdeutschen Elite habe stattgefunden, auch mit Hilfe der Gauckbehörde. Nichts entschuldige die Stasi und ihren repressiven Apparat, die Bespitzelung und Verfolgung. “Aber Stasi – das ist auch ein moralisches Feigenblatt für eigenes Versagen. Eine Heuchelei.” Westdeutsche Politik habe damit ihre eigene Schuld, Feigheit und Nachsicht im Umgang mit ganzen Heerscharen von alten Nazis in Amt und Würden bemäntelt.

Seit einiger Zeit macht sich Axel Schmidt-Gödelitz noch ganz andere Sorgen. Er holt weit aus. Damals in Peking war er stolz auf sein Land. Auf die Friedensfähigkeit, auf Presse- und Meinungsfreiheit, auf Chancengleichheit. Er war sich sicher, dass auf kleinste Zeichen der Demokratiegefährdung geachtet würde. Anders als in der DDR, wo die Zeichen des Verfalls ignoriert wurden. Aber da habe er sich wohl geirrt. “Die Zeichen werden übersehen. Ein System geht nicht von heute auf morgen kaputt. Es gibt eine Inkubationszeit. Es gibt Warnlampen. Die blinken hier schon lange. Wir sind im Abwärts.”

Wir sitzen in seinem Büro in Berlin-Mitte, Rosenthaler Straße am Hackeschen Markt. Ein Viertel mit Leben, Kultur, Spaß, Geschäftigkeit. Die Cafés sind voll, die Menschen gut drauf. Sieht so das Abwärts aus? “Das ist die Oberfläche. Ein Glitzerspiel, das noch funktioniert. Noch.” Er stellt seine Gegenfragen: Ist das der Kitt der Gesellschaft? Macht sie das friedensfähig? Kurz und bündig formuliert Axel Schmidt-Gödelitz seine Prioritäten. Chancengleichheit in Bildung und Arbeit, soziale Gerechtigkeit und Rechtsstaat, ein Wertesystem, das nicht beliebig ist und nach politischem Kalkül umgeschminkt wird. Schließlich, und das ergäbe sich daraus: Das Menschenbild der Gesellschaft. “Alle vier Werte sehe ich gefährdet und im Rutschen.”

Eines der Warnzeichen neben dem gerade bekannt gewordenen Armutsbericht sind die Deutschen Zustände 2004, so der Titel einer am vergangenen Donnerstag vorgestellten Studie, die den Deutschen den drohenden Verlust ihrer “humanen Qualität” bescheinigt. Rechthaben ist manchmal eine Belastung. “Die Spaltung der Gesellschaft in arm und reich produziert menschenfeindliche Ausgrenzung, Aggression und Gewalt, die den sozialen Frieden zerstören.” Axel Schmidt-Gödelitz sieht die Zusammenhänge, nennt einige Symptome: Ausländerfeindlichkeit frisst sich vom rechten Rand zur bürgerlichen Mitte – seit 1998 ist der Anteil der Armen von 12,1 auf 13,5 Prozent gestiegen – über eine Million Kinder leben von Sozialhilfe, und Hartz IV beschleunigt diese Entwicklung. Von Chancengleichheit könne kaum mehr die Rede sein. “Es ist wie vor 100 Jahren: die soziale Herkunft entscheidet über den Bildungsweg eines Kindes und damit über seine Zukunft.” Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Beamtenkind das Gymnasium besucht, sei um das Fünffache höher als bei einem Arbeiterkind. “In Prozenten: 82,2 zu 15,9.” Er springt auf, holt die Studie und knallt sie fast auf den Tisch.

Zahlen, Fakten, Statistiken, Deutsche Zustände 2004: Eine Bilanz politischen Versagens. “Den Menschen zeigt sich die hässliche Fratze eines unsittlichen und auch ökonomisch falschen Kapitalismus”, und sie sehen sich mit einer “Großen Koalition konfrontiert, die offensichtlich die Republik mit einem Metzgerladen verwechselt”, in dem tief ins soziale Fleisch geschnitten wird, schreibt Heiner Geißler in der Zeit. Der Artikel liegt griffbereit auf dem Schreibtisch. “Wir müssen uns fragen, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. In einer unsolidarischen, Menschen zerstörenden, in der Geld der Wert aller Werte ist, oder…?” Für Axel Schmidt-Gödelitz kommt nur das Oder in Frage: “Etwas tun, bevor man ein Held sein muss.”

Das OST-WEST-FORUM in Gödelitz ist ein Teil davon. “Ich mache das aus Verantwortung”, sagt er. Wahrscheinlich kann er gar nicht anders. Das gibt den Gödelitzer Veranstaltungen Inhalt und Profil: US-Politik und Irakkrieg, Literatur in zwei Systemen mit Christa und Gerhard Wolf, Sven Giegold von attac über die Notwendigkeit einer globalen sozialen Bewegung gegen das global wildernde Kapital. “Das Interesse an den Problemen unserer Zeit, an Alternativen ist riesig. Die Leute wollen sich nicht mehr alles gefallen lassen.” Manchmal reiche der Platz nicht aus, die Zeit sei immer zu knapp und der Kalender 2005 jetzt schon voll. Es sind die Klagen einen erfolgreichen Mannes.

Burga Kalinowski