6. Dezember 2008
Von der Verantwortung für Solidarität und soziale Gerechtigkeit. Vortrag und Diskussion von und mit Herrn Joachim Reinelt, dem katholischen Bischof der Diözese Dresden-Meißen.
„Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr,
als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt.“ (Mt 19,24)
Die soziale Sorge mit dem Ziel einer wahren Entwicklung des Menschen und der Gesellschaft, welche die menschliche Person in allen ihren Dimensionen achtet und fördert, soll Anliegen der folgenden Darstellung sein.
Die Zeit verläuft, wie jeder von uns wahrgenommen hat, immer nach demselben Rhythmus; heute jedoch hat man den Eindruck, als unterliege sie einer stetigen Beschleunigung, vor allem wegen der Vielzahl und Verflochtenheit der Ereignisse, in deren Mitte wir leben. Infolgedessen hat die Gestalt der Welt im Laufe der letzten Jahrzehnte, trotz einiger grundlegender Konstanten, bedeutsame Veränderungen erfahren und weist darum völlig neue Aspekte auf. (Sollicitudo rei socialis 4)
Schauen wir auf die heutige Situation: Nachdem das Kommunistische Manifest von Marx und Engels mit der Forderung der Aufhebung des Privateigentums vor 20 Jahren seinen Absolutheitsanspruch verloren hat, gilt die Forderung des deutschen Grundgesetzes: Eigentum verpflichtet. Eigentum hat zugleich dem Eigentümer und dem bonum commune zu dienen. In Deutschland ist seit 1850, durch den Sozialbischof Ketteler von Mainz, die soziale Frage innerhalb unserer Kirche deshalb immer wieder intensiv debattiert worden, weil die ungerechte Verteilung der Güter ein Himmel schreiendes Unrecht ist.
Auch heute leben in unserer Welt eine Milliarde Menschen in extremer Armut. Sie müssen mit weniger als einem Dollar pro Tag auskommen. Das Überleben ist bedroht. Wenn man die Armutsgrenze bei zwei Dollar pro Kopf und Tag ansetzt, sind etwa 2,5 Milliarden in eine dramatische Armut getrieben. Mehr als die Hälfte des weltweiten Vermögens liegt hingegen in den Händen von nur 2% der Menschheit. Die Reichsten der Welt verfügen über 40% des Weltvermögens. Die ärmere Hälfte der Menschheit lebt von einem einzigen armseligen Prozent des Weltvermögens.
Auch die Wirtschaft ist von den Problemen des globalen Wettbewerbs erreicht. Kleine und mittlere Betriebe können sich gegen Global Players oft nicht mehr behaupten. Von ehemals 68 deutschen Rundfunk- und Fernsehgeräteherstellern gibt es heute noch ganze zwei selbstständige Unternehmen. Selbst „Grundig“ ging 2003 mit 40.000 Beschäftigten zu Grunde.
Die gerechte Verteilung des Reichtums in den wohlhabenden Ländern ist lediglich ein Traum. Beispiel USA: von 1973 bis 1994 ist das reale Bruttoinlandsprodukt in den USA um 33% pro Einwohner gestiegen. In der gleichen Zeit fiel der durchschnittliche Wochenlohn für Arbeiter und Angestellte um 19%. 1994 waren die amerikanischen Löhne für diese Arbeitnehmergruppe wieder auf denselben Stand gefallen wie Ende der fünfziger Jahre. Viele leben in den Vereinigten Staaten trotz Vollzeitbeschäftigung unter der Armutsgrenze.
Im gleichen Zeitraum hat sich das Einkommen der Spitzenverdiener vervielfacht. Verdiente ein amerikanischer Manager Anfang der siebziger Jahre im Durchschnitt ungefähr das Fünfundzwanzigfache eines Industriearbeiters, so war es 30 Jahre später bereits das 500-fache. In den achtziger Jahren setzte eine ähnliche Entwicklung in Großbritannien ein.
In den kontinentaleuropäischen Ländern, in denen Gewerkschaften sich gegen Lohnkürzungen wehrten, stellten die Unternehmer immer weniger Arbeitskräfte ein, was zu einer strukturell verfestigten Massenarbeitslosigkeit führte.
Weltweit gibt es 2008 1125 Milliardäre. Sie besitzen 2760 Milliarden €. Zum Vergleich: das Bruttoinlandsprodukt Deutschlands beträgt rund 2400 Milliarden Euro. Die Zahl der Superreichen steigt von Jahr zu Jahr. Mitte der Achtzigerjahre waren es erst 140. Im Jahr 2007 waren es 946 Milliardäre, jetzt sind es also 1125.
Es geht hier nicht um Neid. Es soll auch nicht behauptet werden, dass ein Reicher ein schlechter Mensch sein muss, bloß weil er reich ist. Aber die Folgen der erwähnten Entwicklung müssen beachtet werden. Als Bundespräsident Horst Köhler Chef des Internationalen Währungsfonds war, sagte er: „die extremen Ungleichgewichte in der Verteilung der Wohlfahrtsgewinne werden mehr und mehr zu einer Bedrohung der politischen und sozialen Stabilität.“
Man kann eben nicht in einer Demokratie die politische Gleichheit für alle propagieren und gleichzeitig die Ungleichheit in der Verteilung der materiellen Güter und damit auch der Lebenschancen zur Normalität erklären. Politische Gleichheit und wirtschaftliche Vergleichbarkeit gehören in einem demokratischen Land zusammen.
Der Kapitalismus steht in diesen Tagen vor einem Rechtfertigungsdruck wie kaum zuvor. Übersehen wir nicht, welche Signale in Venezuela und Bolivien ausgesandt werden.
Wenn bei uns Unternehmen Milliardengewinne einnehmen und gleichzeitig Arbeitsplätze abgebaut werden, ist das Explosionsstoff. Wenn bei uns Banken und Fonds Milliarden verspekulieren und die Zeche von der Gesamtheit gezahlt werden muss, ist das Explosionsstoff. Anonymes Kapital und undurchschaubare, waghalsige Geschäfte mit Finanzprodukten der Finanzindustrie gekoppelt mit Gier und Erfolgssucht können eine ganze Welt aus dem Ruder werfen. Die Gewinne werden privatisiert und die Verluste sozialisiert. Das ist eine Devise, die dazu führt, dass 73% der Deutschen die wirtschaftlichen Verhältnisse hierzulande für ungerecht halten. (Bertelsmann)
Trotzdem wollen wir nicht zurück zur katastrophalen Zentralverwaltungswirtschaft nach kommunistischem System. Die marxistische Vergesellschaftung der Produktionsmittel würde wieder zur Verstaatlichung führen und alle Macht in die Hände einer kleinen Clique führen, die menschliche Freiheit durch ihre totalitäre Diktatur einschränken oder unterbinden würden. Josef Ratzinger hat das traurige Ende des bolschewistischen Systems zusammenfassend so beschrieben: „Das kommunistische System hat in den Staaten Osteuropas und Mitteleuropas ein trauriges Erbe zerstörter Erde und zerstörter Seelen hinterlassen. Der Sozialismus hat den Menschen vergessen, und er hat seine Freiheit vergessen.“ (Spe salvi 21)
Es gibt für uns deshalb nur einen Weg in die Zukunft: ein primitiver und grenzenloser Kapitalismus muss verschwinden. Das marktwirtschaftliche System muss bleiben, aber sozial weiterentwickelt werden. Ordnungspolitische Rahmensetzungen können den Kapitalismus zähmen. Eine gerechte Welt ist keine christliche Sozialromantik. Die Lösung der Probleme können nicht in einem blinden Glauben dem freien Spiel der Marktkräfte überlassen werden. (Centesimus annus 42) Der Einzelne muss in seinem Verhältnis zum Nächsten die Tugend der Gerechtigkeit pflegen. Ebenso müssen die Institutionen des Gemeinwesens wenigstens in einem kooperativen Sinn gerecht gestaltet sein. Die Regierenden versprechen bei Amtsantritt: „Gerechtigkeit gegen jedermann“ zu üben. Freilich wissen wir, dass es die gerechte Gesellschaft, die gerechte Ordnung, den gerechten Staat nur annähernd geben kann. Im Buch Deutoronomium heißt es in Kapitel 16,20: „Gerechtigkeit, Gerechtigkeit – ihr sollst du nachjagen.“ Gerechtigkeit meint hier mehr als Interessenausgleich.
Um das Ziel der Gerechtigkeit zu verfolgen, braucht man sowohl einen ausreichenden moralischen Grundwasserspiegel bei den Teilnehmern dieses gesellschaftlichen Prozesses als auch entsprechende politische Rahmenbedingungen. Diese wiederum müssen von der Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert sein. Eine gerechte Gesellschaft ist deshalb eine sehr komplexe Herausforderung. Daher heißt es bei Papst Benedikt in der Enzyklika „Deus caritas est“: „Gerechtigkeit ist Ziel und daher auch Maß aller Politik.“
Augustinus hat schon vor 1600 Jahren geschrieben: „Was anderes sind also Reiche, wenn ihnen Gerechtigkeit fehlt, als große Räuberbanden? Sind doch auch Räuberbanden nichts anderes als kleine Reiche.
Als Alexander der Große einen Seeräuber aufgegriffen hatte, fragte der König den Mann, was ihm einfalle, dass er das Meer unsicher mache. Der Seeräuber erwiderte mit freimütigem Trotz: Und was fällt dir ein, dass du das Erdreich unsicher machst? Freilich, weil ich es mit einem kleinen Fahrzeug tue, heiße ich Räuber. Du tust es mit einer großen Flotte und heißt Imperator.“ (De Civitate Dei IV,4)
Die ethische Grundlage, die die Bibel für eine gerechte Welt beschreibt, ist
– die gleiche Würde aller,
– die Freiheit eines jeden
– und das berechtigte Streben des Menschen nach Glück und Erfüllung.
„Wenn bei dir ein Armer lebt, irgendeiner deiner Brüder…, dann sollst du nicht hartherzig sein und sollst deinem armen Bruder deine Hand nicht verschließen.“ (Dtn 15,7)
„Wenn ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; ich bin der Herr, euer Gott.“ (Lev 19,33f.)
„Wenn ihr auch noch so viel betet, ich höre es nicht. Denn eure Hände sind voller Blut… lasst ab von eurem üblen Treiben! Hört auf, vor meinen Augen Böses zu tun. Lernt, Gutes zu tun! Sorgt für das Recht! Helft den Unterdrückten! Verschafft den Waisen Recht, tretet ein für die Witwen.“ (Jes 1,11-17)
„Weh dem, der seinen Palast mit Ungerechtigkeit baut, seine Gemächer mit Unrecht, der seinen Nächsten ohne Entgelt arbeiten lässt und ihm seinen Lohn nicht gibt, … ein Eselsbegräbnis wird er bekommen. Man schleift ihn weg und wirft ihn hin, draußen vor den Toren Jerusalems.“ (Jer 22,13-19)
Jesus sagt: „Gebt acht, hütet euch vor jeder Art von Habgier. Denn der Sinn des Lebens besteht nicht darin, dass ein Mensch aufgrund seines großen Vermögens im Überfluss lebt.“ (Lk12,15)
Das Urteil, das Jesus für den letzten Tag der Weltgeschichte voraussagt, heißt: „Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, nehmt das Reich in Besitz, das seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt ist. Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen. Dann werden ihm die Gerechten antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und dir zu essen gegeben, oder durstig und dir zu trinken gegeben? Und wann haben wir dich fremd und obdachlos gesehen und aufgenommen, oder nackt und dir Kleidung gegeben? Und wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? Darauf wird der König ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.
Dann wird er sich auch an die auf der linken Seite wenden und zu ihnen sagen: Weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das für den Teufel und seine Engel bestimmt ist! Denn ich war hungrig und ihr habt mir nichts zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir nichts zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich nicht aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir keine Kleidung gegeben; ich war krank und im Gefängnis und ihr habt mich nicht besucht. Dann werden auch sie antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig oder obdachlos oder nackt oder krank oder im Gefängnis gesehen und haben dir nicht geholfen? Darauf wird er ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan.“ (Mt 25,34-45)
Konsequenz:
Die drei Fundamente christlichen Lebens sind: Liturgie, Glaubensbezeugung und Diakonie. Deshalb ist Caritas ein Wesenselement der Kirche. Eine halbe Million Mitarbeiter plus eine halbe Million Ehrenamtlicher allein in Deutschland.
Wie sieht näherhin eine gerechte Gesellschaft aus?
Zunächst braucht jeder eine materielle Grundausstattung, die ihm eine würdige Existenz und eine Teilhabe an den zentralen Lebensvollzügen der Gesellschaft ermöglicht. Hier spricht man von Grundgerechtigkeit oder Bedarfsgerechtigkeit.
Wer seinen materiellen Bedarf nicht selbst bearbeiten kann, braucht die Stützung durch die solidarische Gemeinschaft:Beteiligungsgerechtigkeit. Wer mit Fleiß und Kreativität Eigenes erwirtschaftet hat, darf von niemandem um seine Ergebnisse gebracht werden, auch nicht vom Staat: Leistungsgerechtigkeit. Alle Teilnehmer an einem Wettbewerb müssen gleiche Chancen erhalten:Chancengerechtigkeit. Es gibt menschliche Leistungen, die auf dem Markt keine Bedeutung haben, aber unverzichtbar sind wie Erziehung der Kinder, Versorgung alter und kranker Menschen zuhause. Hier ist Ausgleichsgerechtigkeit gefragt, die einen Lastenausgleich ermöglicht.
Einsatz und Leistung der Reichen
Wer treuhänderisch die ihm anvertrauten Produktionsmittel selbstlos verwaltet und dabei nicht selten seine Haut zu Markte tragen muss, verdient nicht durch einen vulgären Antikapitalismus verschmäht zu werden. Nicht jeder Wohlhabende verschleudert sein Vermögen nach egoistischem Muster. Die Mehrheit der Besitzenden dürfte das Allgemeinwohl und die Sozialpflichtigkeit klar vor Augen haben. Viele haben verstanden, dass kein Profit entwürdigende Arbeitsbedingungen rechtfertigt. „Man kann das Kapital nicht von der Arbeit trennen und Arbeit nicht gegen das Kapital stellen.“ (Laborem exercens 13,1) Gute Unternehmer sind interessiert daran, dass Mitarbeiter in der Arbeit auch zur Entfaltung ihrer Persönlichkeit kommen.
Die reichen Länder sollten allerdings mehr begreifen, dass die Güter dieser Welt für alle bestimmt sind, auch für die armen Länder dieser Erde. Der Weltfriede wird nur möglich bei gerechter Verteilung der Güter dieser Erde. Der entwickelte Norden muss dem unterentwickelten Süden konsequenter beistehen.
Reiche begreifen allerdings bisweilen sogar eher als ärmere Menschen, dass übertriebene Verfügbarkeit mit materiellen Gütern jeder Art leicht zu Sklaven des Besitzens und Genießens machen kann. Letzten Endes ist die Entscheidung zu treffen, ob der Mensch das Haben über das Sein stellt, oder dem Sein die Priorität einräumt.
Joachim Reinelt
Bischof von Dresden-Meißen
zur Person:
Bischof Joachim Reinelt wurde am 21. Oktober 1936 in Neurode (Schlesien) geboren. Nach der Vertreibung siedelte sich die Familie in Sachsen an. 1954 Abitur im sächsischen Radeberg.
Nach einem einjährigen Sprachkurs in Halle von 1955 bis 1961 Theologiestudium in Erfurt und Neuzelle. Bischof Otto Spülbeck weihte Joachim Reinelt am 29. Juni 1961 im Bautzener Dom St. Petri zum Priester. Nach Vertretungsdiensten in Gera wurde Joachim Reinelt Kaplan in Freiberg. 1964 Pfarradjutor in Ebersbach. 1966 bis 1970 Kaplan an der Dresdner Hofkirche. 1970 bis 1974 Pfarrer in Freiberg, in einer sogenannten „Teampfarrei“. 1974 bis 1986 Pfarrer in Altenburg, ab 1980 zugleich Dekan im gleichnamigen Dekanat.
Bischof Gerhard Schafran berief ihn 1986 als Ordinariatsrat in die Bischöfliche Verwaltung des Bistums, wo er als Diozesancaritasdirektor eine leitende Funktion innehatte. Joachim Reinelt wurde am 25. Januar 1988 von Papst Paul II. zum Bischof von Dresden-Meißen ernannt und am 20. Februar desselben Jahres in der Dresdner Kathedrale durch Bischof Gerhard Schafran zum Bischof geweiht. Sein Wahlspruch lautet „Jesus in medio“. Es ist die Kurzfassung des Bibelwortes „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“ (Mt. 18,20). In der Deutschen Bischofskonferenz ist Bischof Reinelt Vorsitzender der Caritaskommission und Stellvertretender Vorsitzender der Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen.