Auf einem Bauernhof in Sachsen lässt Axel Schmidt-Gödelitz die deutsche Einheit von unten wachsen
Wie düngt man eigentlich Toleranz? Auf welchem Humus gedeiht Verständnis? Und unter welchen Bedingungen sprießen Neugier und Unvoreingenommenheit? Vielleicht brauchen sie als fruchtbaren Boden zunächst einmal absolute Konzentration. So, wie sie auf Gut Gödelitz zu finden ist. Zehn Gebäude am Ende der Welt. Zumindest stehen Gutshaus, Scheune und Schafstall am Ende einer holperigen Straße, die durch Orte wie Theerschütz und Lüttewitz führt und dann inmitten sanft dahin hügelnder Felder still ausläuft. Eine kleine Welt unter ausladenden Bäumen. Ein Hof, auf dem der Bauer Max Schmidt vor gut 100 Jahren begann, Pferde zu züchten und Obstbäume zu veredeln. Ein Mustergut, auf dem sein Enkel heute indes nicht mehr Kartoffeln und Getreide wachsen lassen will, sondern die deutsche Einheit und die Demokratie. Nicht mehr und nicht weniger.
Im Großen betrachtet, ist die Saat nur schlecht aufgegangen. »Die Kluft zwischen Ost und West ist wieder größer geworden«, sagt Axel Schmidt-Gödelitz, »und die Menschen verstummen.« Schmidt-Gödelitz sitzt in der ersten Etage des Gutshauses, in dem Zimmer, in dem er vor 67 Jahren geboren wurde. An der Wand hängen Landschaften in Öl und Familienbilder, das Mobiliar – ein sehr gut gefüllter Bücherschrank, ein alter Schreibtisch unterm dem Fenster – wirkt gediegen. Die Fenster selbst sind aus volkseigener Produktion. Dies als Werturteil zu verstehen, verbietet sich allerdings in Gegenwart eines Mannes, der seinen westdeutschen Landsleuten vorwirft, den Menschen im Osten stets erklären zu wollen, wie die Dinge »bei uns in Deutschland« laufen. Schmidt-Gödelitz ärgert sich über anhaltende »Selbstgerechtigkeit« im Westen und die Reduzierung der DDR »auf Stasi und Diktatur«, wovon man im Osten »übersättigt« sei. In einem Porträt über Schmidt-Gödelitz heißt es, er sei ein »Versteher des Lebens in der DDR«.
Dabei war auch Schmidt-Gödelitz einmal ein »Kommunistenhasser«, wie er selbst sagt. Er war noch nicht zehn Jahre alt, trug nur den Familiennamen Schmidt und sammelte in den Wäldern um seinen schwäbischen Wohnort Waffen, die er im Taubenstall hortete, für den Fall, »dass die Russen kommen«. Das Gut Gödelitz, das zwischen Döbeln und Meißen mitten in Sachsen liegt, hatte die Familie damals verlassen müssen. Nach Kriegsende wurde 1946 in der sowjetischen Besatzungszone gemäß dem Potsdamer Abkommen aller Besitz von mehr als 100 Hektar Land ohne Entschädigung enteignet. Das traf oft die Richtigen, war aber gelegentlich auch ungerecht. Die Erben von Max Schmidt, der das Land 1906 von einem Adligen gepachtet und später gekauft hatte, besaßen 61 Hektar zuviel. Die Familie ging in den Westen und nahm den Namen des verlorenen Gutes an – über Jahrzehnte ein Anspruch ohne die Hoffnung, je eingelöst zu werden.
Vielleicht freilich haben der Verlust und die Sehnsucht nach dem Ort der Kindheit, die sich »wie ein Bleilot in die Seele eingesenkt« hatten, unbewusst die Geschicke von Schmidt-Gödelitz gelenkt. Er studierte Politologie und Volkswirtschaft an der FU in Berlin, näherte sich der DDR wissenschaftlich und wurde zum Verfechter der Ostpolitik Willy Brandts. Sechs Jahre arbeitete er in der Ständigen Vertretung der BRD in Ostberlin unter Günter Gaus, den er seinen geistigen Vater nennt und der ihn gelehrt habe, Dingen vorurteilslos auf den Grund zu gehen und ihre Ursachen zu analysieren. Die kann er auch im Fall von Kriegsfolgen wie der Bodenreform benennen. Aber aller nüchternen Betrachtung zum Trotz: Wenn er bei Reisen in die DDR einen Abstecher nach Gödelitz unternahm, das Außenstelle einer Trinkerheilanstalt war, hatte er dennoch regelmäßig Tränen in den Augen.
Aussicht auf mehr als nostalgische Stippvisiten eröffnete sich erst 1989. Schmidt-Gödelitz, der für die Friedrich-Ebert-Stiftung arbeitete, erfuhr vom Mauerfall in deren Pekinger Filiale. Drei Monate später leitete er in Berlin und Potsdam deren Büros, später ihr Berliner Forum. Und: Die Familie bemühte sich um das Gut, das sie, weil das Prinzip »Rückgabe vor Entschädigung« nicht für Bodenreformland zutraf, von der Treuhand kaufen musste. Auf den Fluren der Behörde und in vielen Amtsstuben erlebte er mit Unbehagen, wie sich vermeintliche Sieger der Geschichte gebärden. Die Familie zog wieder in Gödelitz ein, auf einem Hof mit verfallenen Häusern und voller schrottreifer Landwirtschaftsgeräte. Herablassung und Siegerallüren aber scheinen den Schmidt-Gödelitz’ fremd. Vielmehr begannen sie in der fruchtbaren Lommatzscher Pflege zu säen und zu hegen – und zwar ein zartes Pflänzchen namens innere Einheit.
Geackert wird in Gödelitz im Stillen. Seit nunmehr 15 Jahren lädt Axel Schmidt-Gödelitz alle Monate zehn Menschen auf das Landgut ein. Je fünf Ost- und fünf Westdeutsche, Frauen und Männer, Linke und Konservative erzählen sich ihre Leben. NVA-Generäle saßen ebenso in der Runde wie Firmenchefs. Diskussion und gegenseitige Kritik sind nicht erlaubt, nicht einmal ein entnervt-missbilligendes Augenrollen. Schmidt-Gödelitz will, dass sich die Menschen zunächst zuhören und Vorurteile hintanstellen. Vielleicht, so lautet seine Hoffnung, schwinden diese, wenn man sich aufmerksam genug aufeinander einlässt. Rund 1000 Menschen haben schon an den Gesprächsrunden teilgenommen; nur einer habe die Konfrontation mit Biografien, die anderen Wertmaßstäben als den seinen unterlagen, nicht ausgehalten.
1000 Menschen auf diese Weise zusammenzubringen ist eine Leistung, zumal aus den kleinen Runden später oft dauerhafte Bekanntschaften entstanden sind. Die innere Einheit vollzieht sich hier gewissermaßen als eine Art Graswurzel-Bewegung. Aber aufs gesamte Land betrachtet, sind 1000 Menschen nicht viel. »Man hätte das bundesweit veranstalten müssen«, sagt Schmidt-Gödelitz. Das aber blieb aus. So wich anfängliche Neugier später Ernüchterung und Selbstgerechtigkeit. DDR-Biografien wurden abgewertet, die ostdeutsche Elite abgewickelt, Menschen auf die Straße gesetzt. In Sachsen werfen ostdeutsche Landespolitiker sogar DDR und NS-Zeit in einen Topf. Schmidt-Gödelitz hebt die Hände. Er will nichts beschönigen. Aber »wer Rot gleich Braun setzt, der verwechselt Aktenberge mit Leichenbergen«, sagt er. Im Umgang mit der DDR sei eine gründliche Aufarbeitung nötig, »aber nicht Aufrechnung«.
Eine Art Übung in Toleranz sind auch die Veranstaltungen, mit denen das 1998 gegründete »Ost-West-Forum Gut Gödelitz e.V.« öffentlich wahrgenommen wird: Mehrmals im Jahr sprechen Politiker, Wissenschaftler und Künstler über ihr Leben, ihre Ideen und den Zustand der Gesellschaft. Eröffnet wurde die Reihe mit Hans-Otto Bräutigam, dem letzten Leiter der Ständigen Vertretung; im Monat danach sprach Herbert Häber, zeitweiliger Leiter der Westabteilung im ZK der SED. Zu den jüngsten von bisher insgesamt 96 Gästen gehörten Sachsens Wissenschaftsministerin Eva-Maria Stange, BND-Präsident Ernst Uhrlau und Deutschlandradio-Intendant Ernst Elitz. Vor neun Jahren in der Küche des Gutshauses begonnen, stoßen die Runden inzwischen auf soviel Resonanz, dass der Raum längst zu eng wäre. Zum Glück war ein Sponsor von der Atmosphäre so angetan, dass er Geld für den Ausbau des alten Schafstalles spendete. Aber auch dessen 200 Plätze reichen oft nicht mehr aus.
Einen Grund für den großen Zuspruch benennt Eva-Maria Stange. Die Dresdner SPD-Frau lobt den »offenen Dialog in familiärer Atmosphäre jenseits des üblichen parteipolitischen Streits«, der in Gödelitz gepflegt werde: »Es werden nicht die alten Vorurteile betont.« Daran habe der Hausherr des Gutes, das unter seiner Regie zum »Allgemeingut« geworden sei, einen gehörigen Anteil: Schmidt-Gödelitz sei »jemand, der nicht belehrt, sondern zuhört« und diese Tugenden auch bei seinen Gästen befördert. Eine vergleichbare Einrichtung, sagt die Ministerin, gebe es in Sachsen nicht noch einmal.
Schmidt-Gödelitz selbst verweist auf eine Grundhaltung der Offenheit, der aber Prinzipien zugrunde liegen. Gödelitz sei »ein Ort der Toleranz, aber nicht der Beliebigkeit«, sagt der Hausherr, der den oft als »taktvoll« beschriebenen Stil der Treffen prägt: Auch in der Rolle als Moderator ist Schmidt-Gödelitz kein bestimmender Gutsherr, sondern im besten Sinne ein Gut(s)mensch – ein unerschütterlicher Optimist, der bei aller Enttäuschung über den Zustand der Gesellschaft das Vertrauen nicht verliert, dass man sie ändern kann.
Denn natürlich geht es schon lange nicht mehr nur um das Zusammenwachsen von Ost und West. Das Land sei auch in anderer Hinsicht tief gespalten, mahnt Axel Schmidt-Gödelitz, der sein Ideal eines »sozialen demokratischen Rechtsstaat« bedroht, zerbröselt, sogar »systematisch ramponiert« sieht. Aus der Marktwirtschaft sei »ein großes Casino geworden«, sagt er und nennt »tausend kleine Ungerechtigkeiten, die unsere Demokratie untergraben«. Er echauffiert sich über Manager, die keine Werte haben, aber Millionen verzocken, und wettert über Medien, die ihrer Rolle als Aufklärer nicht mehr gerecht werden. Mit Klagen begnügt er sich nicht. In den Biografie-Runden sollen sich künftig auch Deutsche und Türken treffen; ein deutsch-polnisches Forum wurde ebenfalls gegründet. In einem »Gödelitzer Kreis« hat er Politiker, Wissenschaftler und Juristen versammelt. Und für die Zukunft schwebt ihm auch eine »Werteakademie« vor, die jungen Führungskräften ethische Grundsätze vermitteln kann. Dünger, das weiß der Hausherr des früheren Musterguts in der Lommatzscher Pflege, wird vor allem durch feinste Wurzeln aufgenommen. Das gilt auch und gerade für die Demokratie.
Von Hendrik Lasch