Döbelner Allgemeine Zeitung – “Nicht auf den großen Zampano warten”

Döbelner Allgemeine Zeitung, Mittwoch 12. Mai 2010

Bundespräsident fordert auf Gut Gödelitz entschiedenes Handeln der Staaten an den Finanzmärkten, aber auch Engagement der Bürger vor Ort

Vergangenes Jahr kamen fast 3000 Besucher zu Veranstaltungen des Ost-West-Forums. Zehn Prozent dieser Gästebilanz hat das Team um Axel Schmidt-Gödelitz allein gestern Abend erreicht. Rund 300 Leute kamen zur Debatte mit Bundespräsident Horst Köhler und SPD-Urgestein Egon Bahr. Thema: Wandel durch Bürgerengagement.

Es kam vieles auf den Tisch, von Problemen in den Kommunen bis zu aktuellen Entwicklungen an den Finanzmärkten. Bundespräsident Köhler forderte mehr eigene Initiative und eigenes Engagement. Ziel müsse sein, “zu erleben, dass
man gemeinsam mit anderen etwas bewegen kann”. Für den Bundespräsidentern steht auch
fest: “Ich glaube, dass wir unser Glück nicht mehr allein mit Wirtschaftswachstum erreichen.”

Köhler erinnerte an “viele kleine Auftriebe vor und nach dem Fall der Mauer. Man hatte sich in die eigenen Angelegenheiten eingemischt.” An diese Erfolge und diese Kreativität müsse man sich erinnern – gerade, weil es später auch andere
Erfahrungen gegeben habe: Verlust, Enttäuschung, Ohnmacht. “Überall in Deutschland scheint das Vertrauen in die Demokratie und die Lösungskompetenz von Politikern und Parteien zu sinken”, sagte Köhler.

Viele seien wütend, für eine Krise aufkommen zu müssen, die andere verschuldet haben. Lebensbewältigung und Zukunftsgestaltung fänden unter Bedingungen der Ungewissheit statt. Gefühlte gesellschaftliche
Ungerechtigkeit sei Gift für bürgerschaftliches Engagement.

Die Politik dürfe nicht vorgaukeln, alles leisten zu können. “Jeder Einzelne”, betonte Köhler, “muss sich engagieren” und dürfe dieses Engagement nicht immer “vom Staat” oder “der Politik” einfordern. Es gebe gerade in Ostdeutschland positive Beispiele dafür, sagte der Bundespräsident. Bürgerschaftliches Engagement dürfe nicht dazu dienen Löcher zu stopfen, sondern um neue Wege auszuprobieren. Der Staat könne sich nicht aus seiner Daseinsfürsorge davonstehlen – aber es dürfe eben nicht jede Forderung nach mehr bürgerschaftlichem Engagement in Misskredit geraten. Der Staat, so Köhler, müsse für die Rahmenbedingungen sorgen. Die wichtigste: gute Bildung. “Das ist die beste Form der sozialen Gerechtigkeit, und daran hapert es bei uns. An der Bildung darf nicht gespart werden.” Das bedeute aber auch, dass man entscheiden müsse, wo man sonst spart. “Uns steht eine Diskussion über Prioritäten bevor.” Daran müsse sich jeder
Einzelne beteiligen.

Man könne hinter viele Sätze des Bundespräsidenten ein Ausrufezeichen setzen, sagte Egon Bahr. “Das Gefühl des Ausgeliefertseins ist groß.” Andererseits gebe es Gestaltungsmöglichkeiten. “Wir haben zu einem großen Teil das
Bewusstsein verloren, dass eine Wahl wirklich eine Entscheidung bedeutet.” Das Ergebnis der jüngsten Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen habe unmittelbare Auswirkungen in Berlin. Und Bahr hatte noch ein dickes Lob für den
Bundespräsidenten: Der habe sich seine kritische Ader bei der Beschreibung der Gesellschaft erhalten und dabei nichts in Richtung, Schärfe und Deutlichkeit verloren. “Das ist Glaubwürdigkeit, dafür danke ich Ihnen.” Applaus auf Gut
Gödelitz.

Köhler forderte in der Diskussion eine bessere Finanzausstattung und mehr Autonomie für die Kommunen, denn die seien “die Keimzelle der Demokratie”. Dazu sei eine neue Förderalismusreform nötig. Die Lommatzscher Bürgermeisterin Anita Maass (FDP) verwies auf zu enge finanzielle Spielräume und zu viele Richtlinien vor Ort. Man dürfe bürgerschaftliches Engagement nicht überfordern und idealisieren.

Köhlerund Bahr verlangten klare Spielregeln für die Finanzmärkte. “Es geht darum, dass der Staat das Primat demokratischer Politik gegenüber den Finanzmärkten durchsetzt”, so Köhler, der die Griechenland-Hilfen verteidigte. “Wir würden uns sonst selbst schaden.” 70 Prozent der deutschen Exporte gingen nach Europa. Man sei auf die
europäischen Nachbarn angewiesen.

Jeder Bürger solle Spielregeln für die Finanzmärkte einfordern – bei seinem Bundestagsabgeordneten. Man solle “nicht immer auf den großen Zampano warten”, damit etwas passiert. “Sagen Sie denen Ihre Meinung und mischen Sie sich ein.”

Björn Meine