Vortrag von Hartwig von Schubert: Afghanistan und die Tugend strategischer Gewalt

Veranstaltung am 12. Februar 2011

Ohne 9/11 wären wir nicht in Afghanistan. Was als legitime Selbstverteidigung der Vereinigten Staaten von Amerika begann – gegen einen Angriff übrigens, der mehr Opfer forderte als Pearl Harbour – und mit einem schnellen Sieg der USA gegen das von den Taliban beherrschte Afghanistan endete, offenbarte sehr schnell den Charakter eines veritablen Jahrhundertprojekts.

Um das Versprechen menschlicher Sicherheit und Entwicklung einzulösen,braucht man aber die Tugend strategischer Geduld über Generationen hinweg, denn eine Nation Afghanistan gibt es, einen Staat gibt es dort nicht; wirtschaftlich zu holen gibt es dort auch nichts.

Und wenn es denn einen Staat gibt, den der deutsche Außenminister jetzt abermals energisch einfordert, dann nützt er nur den urbanen Eliten, nicht aber der breiten Masse der Menschen in diesem sehr unwirtlichen, geradezu abweisenden Naturraum.

Die seit nunmehr einem Jahrzehnt dort anwesenden westlichen Streitkräfte haben für diese Erkenntnis bereits einen hohen Blutzoll entrichtet. Die Soldatinnen und Soldaten erwarten, dass das Projekt einer Islamischen Republik Afghanistan mit Sinn und Verstand vorangetrieben wird. Ihren Teil dazu wollen sie beitragen. Das Stichwort heißt Aufstandsbekämpfung, Counterinsurgency: COIN.

Die Generation Petraeus hat die Kolonialkriege des 19. und 20. Jahrhunderts studiert, keineswegs um die Zeit zurückzudrehen, sondern um aus den Erfolgen und Misserfolgen der letzten 150 Jahre für die Entwicklungsprojekte der nächsten 150 Jahre zu lernen. Die wesentliche Erkenntnis: der militärische Beitrag ist geradezu marginal gegenüber dem zivilen. Und der zivile Beitrag kann nicht in Geld allein beigesteuert werden, denn das Geld wird über kurz oder lang doch nur wieder in Waffen investiert. Zivil heißt auch nicht einfach Nahrungsmittel verteilen, Brunnen bohren, Schienen legen, Schulen bauen, sondern Zivil heißt in allererster Linie “good governance”, und das ist im Deutschen nicht mit gutem Regierungshandeln zu übersetzen, denn wer “Regierung” sagt, denkt “Staat”, und schon sind die Verwandtschaftsnetzwerke, aus denen die afghanische Gesellschaft weitgehend besteht, wieder heillos überfordert. Niemand kann in neopatrimonialen stammesstrukturen “regieren”, sehr wohl aber wird dort verhandelt!

Die deutschen “Entwicklungshelfer mit Stahlhelm” sind weit davon entfernt, Afghanistan mit Krieg überziehen zu wollen. Diese Diskussion ist eine Gespensterdebatte. Es ist sehr gut, dass in Deutschland jetzt die strukturellen Voraussetzungen diskutiert werden, die notwendig sind, um Menschen in katastrophengeschüttelten Gebieten aus der Spirale von Armut und Gewalt entschlossen und nachhaltig herauszuhelfen. Diese Diskussion sollte aber durch eine breite Öffentlichkeit begleitet werden. “Denn wenn wir nicht nach Afghanistan gehen, dann kommt Afghanistan zu uns.”


 

zur Person:

Hartwig von Schubert, geboren 1954 in Rheden/Niedersachsen studierte von 1974 -1980 Evangelische Theologie in Göttingen, Tübingen, Heidelberg und Kiel. Sein Berufsleben begann mit einer Stelle als Vikar und Pastor in Hamburg St. Georg (Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche). Zwischen 1987 bis 1992 arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle der Evangelischen Studiengemeinschaft Heidelberg. Dort promovierte er 1988 zum Thema Evangelische Ethik und Wirtschaftstechnologie. Von 1992 bis 2003 war Dr. von Schubert Abteilungsleiter des Diakonischen Werk Hamburg. Im Anschluss arbeitete er als Studienleiter der Evangelischen Akademie Nordelbien. Seit 2004 ist er Seelsorger und Lehrer an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg. Seine beruflichen Schwerpunkte sind Friedensethik, Wirtschaftsethik und Gesundheitsethik.

Von November 2009 bis März 2010 hielt sich Dr. von Schubert in seiner Eigenschaft als Militärdekan bei der Bundeswehr in Afghanistan auf.