Döbelner Allgemeine Zeitung – Debatte um NS-Verbrecher

Wahrheit vor Gericht und Geschichte

Gödelitz

11-04-2011 von Kathrin König

Immer wieder prägen Gerichtsprozesse um NS-Verbrecher und Massenmörder die Schlagzeilen – auch 66 Jahre nach Weltkriegsende. Zu Recht fragen sich viele Bundesbürger: Was ist da los? Hat die Bundesrepublik bei der Verfolgung von NS-Verbrechern versagt? Diese Frage stellte am Sonnabend auch der leitende Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm. Er leitet die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg. Seit 30 Jahren beschäftigt er sich mit dem Thema. Um es vorweg zu nehmen: “Nein”, lautete seine Antwort am Ende des Vortrags im Gut Gödelitz. Das Ost-West-Forum hatte ihn als Referenten zum Diskussionsabend eingeladen. “Wir haben viele Fehler gemacht, vor allem meine Vorgänger in den 1950er Jahren. Aber von Versagen möchte ich nicht sprechen”, sagte Schrimm. Von 1945 bis 2005 sei in den Westzonen und der BRD gegen 16 740 NS-Verbrecher ermittelt worden. Kopfschütteln und Gemurmel in den Zuschauerreihen, weil weniger als die Hälfte derer auch rechtskräftig verurteilt worden waren.

Mit dieser Quintessenz wollten sich einige der 120 interessierten Besucher nicht zufrieden geben. “Ihr Vortrag hat mich doch sehr erschüttert. Ich hatte bisher einen besseren Eindruck vom Rechtsstaat”, sagte ein älterer Zuhörer. Damit reagierte er auf Schrimms Erklärungen, weshalb viele Mitläufer nicht verfolgt wurden, warum auch keiner der Richter oder Staatsanwälte, die während der NS-Zeit Dienst taten, in der BRD für ihre Urteile und Arbeit belangt worden sind. Oder weshalb es Jahrzehnte brauchte, bis namentlich bekannte NS-Verbrecher endlich vor deutsche Gerichte gestellt wurden. Kurt Schrimm erklärte zu Beginn seines einstündigen Vortrag die juristische Ausgangslage 1945. Von da an fünf Jahre lang übernahmen die Alliierten die Strafverfolgung. 1950 bekam die junge BRD die Gerichtshoheit. Allerdings hätten die Staatsanwälte allzu oft nicht ermitteln können, weil die Verbrechen außerhalb ihres Zuständigkeitsbereiches lagen – also in Polen, in der DDR, der CSSR oder in der Sowjetunion.

1958 wurde in Ludwigsburg eine Schwerpunktstaatsanwaltschaft als Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen gegründet. Jetzt konnten Kompetenzen gebündelt werden. “Um den schweren Stand dieser Zentrale zu begreifen, muss man die 1950er Jahre betrachten. Sie dürfen nicht vergessen, dass diese Zentrale politisch viele Feinde hatte”, sagte Moderator Axel Schmidt-Gödelitz zur Einordnung der politischen Zeitgeschichte. Bis zum Fall der Mauer hätten die Ostblock-Staaten, außer Polen, jede Zusammenarbeit mit Ludwigsburg abgeblockt. Auch Länder in Südamerika halfen kaum bei der Auslieferung von NS-Verbrechern, die sich auf ihren Staatsgebieten versteckt hatten. Kathrin König