Lesung mit Marcel Beyer

Veranstaltung am 2.7.2011

Wir sind dabei, wenn Lippen, Zunge, Zähne diese ungewollten Laute nicht mehr im Zaum halten können, wenn animalische Töne den gesamten Rachenraum erfüllen. Der Urschrei ist zurückgekehrt, er ergreift uns, wir werden ihn nicht mehr los. Und auch die sechs Kinder in Goebbels Haus hören ihn deutlich, können sich dem Inferno der Stimm- und Sprachmanipulation nicht entziehen. Ihre Ängste, ihr Missdeuten, ihr Fragen – all das macht das barbarische Wüten der Propaganda- und Mordmaschinerie auf leise Art schreiend laut.

Ein erbarmungslos enthüllender Roman – als Leser friert es einen, man ist geschockt, man fühlt mit, man ist mittendrin. “Flughunde” – so heißt die spannende und erschreckende Audio-Studie des Dritten Reichs. Spätestens mit diesem Roman wurde Marcel Beyer 1995 bekannt.

Der Sog des Kriegsgrauens reißt uns auch in “Kaltenburg” mit, seinem letzten Roman, einem brillianten Streifzug durch deutscheWissenschaftshistorie. Der greise Tierforscher Ludwig Kaltenburg ringt einsam in seiner Dresdner Villa, im verlogenen gelobten Land des Antifaschismus mit seiner braunen Vergangenheit. Der Roman stellt Fragen, ohne deren Antworten dem Leser aufzudrängen: Wie kommt es eigentlich, dass ein bedeutender Wissenschaftler aus Österreich in den fünfziger Jahren ausgerechnet in der DDR lehrt und forscht? Dass die ornithologische Tradition in Sachsen und eine sozialistische Überzeugung nicht die einzigen Gründe sind, versteht sich von selbst. “Kaltenburg” ist kein Schlüsselroman über den Verhaltensforscher Konrad Lorenz, das wäre viel zu einfach. Dieser Roman vergegenwärtigt uns meisterlich Zeitgeschichte, er befragt die aktuellen Konsequenzen der noch tiefen und unverheilten Wunde des Nationalsozialismus in Deutschland.

Wie Marcel Beyer sich für seine Themen die verschiedensten Fachgebiete erschließt, ist beeindruckend. 2008 war er „Writer in Residence“ am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin-Dahlem, forschte dort für seinen Kaltenburg. Beyer schafft es zu verunsichern, wahr oder nicht wahr? Erzähltes wird immer wieder in Frage gestellt, das aber ruft Misstrauen gegen sich hervor. So werden – um mit Siegfried Lenz zu sprechen –„imaginäre Geschichtsschreibung und Sprachreflexion“ in einen kunstvollen und fesselnden erzählerischen Zusammenhang gebracht. Auch sprachlich ist Beyer brillant, er meidet das Reißerische in seinen Romanen, er ist subtil, erschreckend genau und gleichzeitig phantasievoll, verblüffend. Wie er die verborgene Poesie der Fachsprachen mit einer eigenen Stimme zum Klingen bringt, das zeichnet ihn aus, das macht ihn einzigartig.


 

Zur Person Marcel Beyer:

Marcel Beyer, geboren am 23. November 1965 in Tailfingen/Württemberg, wuchs in Kiel und Neuss auf. Er studierte von 1987 bis 1991 Germanistik, Anglistik und Literaturwissenschaft an der Universität Siegen; 1992 Magister artium mit einer Arbeit über Friederike Mayröcker.

Ab 1989 gab er an der Universität Siegen gemeinsam mit Karl Riha die Reihe „Vergessene Autoren der Moderne“ heraus. Von 1990 bis 1993 arbeitete er als Lektor an der Literaturzeitschrift „Konzepte“ mit; von 1992 bis 1998 veröffentlichte er in der Musikzeitschrift „Spex“. 1996 und 1998 war er „Writer in residence“ Villa Massimo und war Anfang des Jahres gerade in New York. Am University College London und an der University of Warwick in Coventry.Bis 1996 lebte Marcel Beyer in Köln, seitdem ist er in Dresden ansässig. Grund dafür sei sein Wunsch gewesen, diesen Teil Deutschlands von innen besser kennen zu lernen.

Neugierig ist er allemal. So weilte er 2010 zum Stipendium der Deutschen Akademie Rom in der Er wurde mehrmals mit Preisen geehrt, unter anderem mit der Johannes-Bobrowski-Medaille, dem Uwe-Johnson-Preis, dem Heinrich-Böll-Preis, dem Erich-Fried-Preis. 2008 wurde er mit dem Joseph-Breitbach-Preis geehrt – für sein gesamtes Werk. Die Begründung der Jury damals: „Die Jury ehrt den Lyriker und Romancier Marcel Beyer für seine sprachlich versierte und psychologisch komplexe Auseinandersetzung mit den langen Schatten der deutschen Vergangenheit. Er hat das Verhältnis von Erinnerung und Erfindung, Verschweigen und Vergessen in immer neuen Versuchsanordnungen ästhetisch ausgelotet und die große Geschichte im Spiegel individueller Schicksale reflektiert. Recherche, Analyse und Fiktion gehen in seinen Büchern eine subtil komponierte und atmosphärisch dichte Verbindung ein, wobei die literarische Rekonstruktion der Vergangenheit die Bedingungen des Erinnerns immer mitreflektiert. Beyers Romane sind poetische Resonanzräume für die Stimmen der Toten; imaginäre Raumerweiterungen, deren Präzision und Musikalität stets dem Klangbewusstsein und der sprachlichen Ökonomie des Lyrikers geschuldet sind.“

Dem ist jetzt nichts mehr hinzufügen. Wir schätzen uns sehr glücklich, dass Marcel Beyer unser Gast war, er ist ein großartiger Geschichtenerzähler.