Quelle: sz-online/Döbelner Anzeiger
Montag, 8. Oktober 2012
Von Dagmar Doms-Berger
Egon Bahr (90) war der Vater der Ostverträge und Willy Brandts bester Freund. Am Sonnabend gab es stehende Ovationen für den SPD-Politiker.
Er wird wie kein anderer Politiker von den Ost- und Westdeutschen gleichermaßen bewundert und anerkannt: Egon Bahr. Am Sonnabend war das Urgestein der SPD zu Gast im Ost-West-Forum Gut Gödelitz und referierte über sein politisches Leben. Welcher Politiker, wenn nicht Bahr, kann sich entspannt zurücklehnen und über all die Ereignisse und Hintergründe der deutschen und europäischen Geschichte reden – ohne Verklärung. Der inzwischen 90-Jährige hat erreicht, wofür er sich von Beginn seiner politischen Laufbahn eingesetzt hat: die Einheit Deutschlands. Bahr war an den wichtigen Schnittstellen und entscheidenden Wendepunkten deutscher Geschichte dabei, hat sie entscheidend beeinflusst mit seinem legendären Verhandlungsgeschick. Er gilt als der Architekt der Ostverträge sowie Vordenker und Stratege der Beendigung des Kalten Krieges.
Nach den Ereignissen von 1953 in der DDR, 56 in Ungarn und 68 in der CSSR, zog Bahr die Lehre: „Veränderungen können nicht von unten, nur von oben, von Moskau kommen“. Mit dem Mauerbau 1961 sah er, damals Pressesprecher bei Willy Brandt in Berlin, seinen Traum von der deutschen Einheit dahinschwinden. Die West-Alliierten hatten die Mauer und damit die Teilung Deutschlands akzeptiert, Moskau und Washington taten nichts dagegen. Mit dem Mauerbau entstand der Grundgedanke der Entspannungspolitik. Ziel war, die Mauer durchlässiger und damit menschlicher zu machen. „Wandel durch Annäherung“, so der Titel seines Papiers, leitete die Kehrtwende in der innerdeutschen Politik ein. Den Abschluss bildete der Grundlagenvertrag 1972. Vorangegangen war der Vertrag der Bundesrepublik mit der Sowjetunion über Gewaltverzicht 1970, bei dem Bahr wie kein anderer westdeutscher Politiker seine Ausdauer und Zähigkeit bewies. Acht Monate dauerten die Verhandlungen mit Moskau. „Als besonders schwierig erwies sich der für seinen harten Verhandlungsstil bekannte sowjetische Außenminister Andrej Gromyko“, so Bahr. Henry Kissinger, Sicherheitsberater unter Präsident Nixon, war es, der Bahr in die Back Channels, in die geheimen Drähte der Diplomatie einweihte, vorbei an der offiziellen Außenpolitik und den Geheimdiensten. Auf diese Weise wurden zwischenstaatliche Fragen der umstrittenen Ostpolitik unkompliziert und vertraulich sondiert. „Ohne diesen Kanal oder das System der Kanäle wäre das Berlin-Abkommen so nicht zustande gekommen“, kommentierte Bahr.
Reichlich zwei Stunden lieferte der unermüdliche Bahr mit seinen 90 Jahren den lebendigsten Geschichtsunterricht, den man sich vorstellen kann. Er verfügt über eine bewundernswerte Rhetorik, seine Rede ist scharf, nie langweilig, gewürzt mit trocken-humorigen Einwürfen. Egon Bahr lebt in Berlin. Nach Gödelitz kam er mit seinem eigenen Auto angereist.