Rückblick: Der Mercedesstern und sein langer Schatten – Zwangsarbeit bei Daimler-Benz

Vortrag, Film und Gespräch mit Doktor Helmuth Bauer

Zeit und Ort: Sonnabend, 14.11.2015, 18:00 Uhr Gut Gödelitz, Alte Schäferei

Einführung von Professor Wendelin Szalai:

Liebe Mitglieder und liebe Freunde des ost-west-forum Gut Gödelitz,
meine Damen und Herren,
im Namen des Vorstandes begrüße ich Sie alle zu einer neuen Veranstaltung unserer monatlichen Samstagabendreihe.
Die Stammbesucher unter Ihnen wissen, wenn ich eine Veranstaltung eröffne, dann geht es in der Regel um eine neue Kunstausstellung.

Heute ist das etwas anders, aber es ist so ähnlich.
Ich möchte Ihnen zunächst eine Künstlerin vorstellen.
Aber diese Bildhauerin und Malerin ist bereits 1966 in Paris verstorben.
Danach werde ich etwas über das malerische Hauptwerk dieser Künstlerin sagen.
Aber wir können uns diese Bilder nicht im Original anschauen, sondern nur auf der Filmleinwand.

Die Künstlerin, über die ich reden will, heißt Edit Kiss.
Sie ist 1905 in Budapest geboren.
In Budapest und in Düsseldorf hat sieBildhauerei studiert, in Nagybánya Malerei.
Im Oktober 1944 wird Edit Kiss aus Budapest in das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück deportiert.Ihr „Verbrechen“: Sie ist Jüdin.

Seit über einem Jahrzehnt bereits hatte sich in Deutschland die Lage dramatisch verändert, schrittweise zuerst und dann immer schneller und immer radikaler.
„Deutschland, Deutschland über alles in der Welt“ wurde zu einem nationalistisch überhöhtenDenk- und Verhaltensmuster.

Gegen Juden, Kommunisten, Schwule, Sinti, Roma und andere „Untermenschen“ wurde  hasserfüllt gehetzt: Auf  Versammlungen und bei Umzügen, mit Worten und mit Symbolen.
Galgen und Guillotinen wurden drohend an jüdische Geschäfte gemalt.

Die Mehrzahl der „normalen“ Deutschen schaute und hörte bei dieser Hetze weg.
Viele erlagen der Hetze und stimmten in sie ein.
Sie hielten sich als Deutsche für die besseren Menschen, für „Herrenmenschen“.

Bald ging man von verbaler zu realer Gewalt über.
„Volksfeinde“ kamen in „Schutzhaftlager“.
Anzahl und Größe dieser Konzentrationslager nahmen rasch zu.
Bald starben„Volksfeinde“ an Galgen und auf Guillotinen.
Als diese Art des Tötens für das massenhafte Morden nicht effektiv genug war, ging man zu Giftgas und Verbrennungsöfen über.

An diesen unmenschlichen und unfassbaren VerbrechenH itlerdeutschlands war Ungarn als gefügiger Verbündeter mitschuldig.

Edith Kiss 1945

Bild 7 aus „Album Deportation“ 1945(Innere Bilder…, Abb.44)

Im Dezember 1944 wurde Edit Kiss zusammen mit etwa 80 anderen ungarischen Jüdinnen in die Nähe von Ludwigsfelde transportiert. Mehr als 1100 Frauen aus dem KZ Ravensbrück wurden dort im „Nationalsozialistischen Kriegsmusterbetrieb Daimler-Benz Genshagen“ zur ArbeitbeimFlugzeugmotorenbaufür die deutsche Rüstungsindustrie gezwungen. Wenn sie für diese Sklavenarbeit nicht mehr nutzbar waren, wurden viele dieser Zwangsarbeiterinnen ins Gas geschickt.

Gegen Kriegsende kam auch Edith Kiss auf einen solchen„Todesmarsch“,der von Genshagen zurück nach Ravensbrück und dann in die Gaskammer führen sollte.

Der schnelle Vormarsch der Roten Armee verhindert die Verwirklichung des Mordplanes.
Am 30. April 1944 gelingt Edit Kiss zusammen mit ihrer Freundin Àgnes die Flucht.
Über Berlin, Prag und Bratislava kehren sie auf abenteuerlichem Wege nach Budapest zurück.

1945,unmittelbar nach Kriegsende, hält die Künstlerin Edith Kiss ihren Leidensweg und den ihrer Mitgefangenen in 30 Bildern fest.
Sie will sich so die schrecklichen inneren Bilder von der Seele malen.
„Deportation“ nennt sie diesen Bilder-Zyklus.
Allein aus Ujpest, einem Budapester Stadtteil, haben mehr als 16 000 jüdische Bewohner die Deportation nicht überlebt.

Die 30 Guachemalereien dieses Zyklus bilden das Hauptwerk der Malerin Edit Kiss.
Es sind ausdrucksstarke Kunstwerke.
Und es sind zugleich historische Quellen, anklagende Berichte einer Zeitzeugin.
Berichte darüber, zu welcher Barbarei das Land der Dichter und Denker fähig gewesen ist.
Als Bildhauerin hat Edit Kiss das gleiche Thema in großen Steinrelieftafeln gestaltet.

1948 verlässt Edith Kiss das inzwischen politisch veränderte Ungarn. Sie geht in den Westen.
Aber die inneren Bilder von Deportation und Konzentrationslager lassen sie auch hier nicht los.
1966 nimmt sich die sensible Künstlerin in einem Pariser Hotel das Leben.

Ihr Bildzyklus „Deportation“ schien verschwunden und vergessen zu sein.
1992 hat ihn ein Mann in London aufgefunden und danach europaweit bekannt gemacht.

Diesen interessanten Menschen, eine mich beeindruckende Persönlichkeit, will ich Ihnen jetzt  kurz vorstellen.

Helmut Bauer wurde 1943 in Ulm geboren.
In Freiburg, Zürich und Westberlin hat er Literaturwissenschaft und Theaterarbeit studiert.
1972 hat er promoviert.
Das Thema seiner Doktorarbeit lautete „Arbeiten und Essen. Lage und Kämpfe der Bauern, Handwerker und Arbeiter und ihre Darstellung in deutscher Literatur
von 1770-1850“.

Aus einer solchen linken, proletarischen und sozialen Haltung heraus lässt Dr. Helmut Bauer seinen Doktortitel unbenutzt und macht eine Facharbeiterausbildung.
Danach arbeitet er vier Jahre lang als Maschinenschlosser bei Daimler-Benz.

Dr. Bauer

Dr. Helmuth Bauer (Foto Susanne Hantke)

Als neugieriger,geschichtlich denkender und verantwortungsbewusst handelnder Bürger gelangt er durch Hartnäckigkeit, durch Unterstützung und auch mit Glück an Unterlagen über die Geschichte dieses Unternehmens während des „Dritten Reiches“, auch über die Zwangsarbeit von KZ-Häftlingen.
Dieser Teil der Betriebsgeschichte von Daimler-Benz war aus der Erinnerung verschwunden.
Er war verschwiegen und bewusst vergessen worden.

Lassen Sie mich an dieser Stelle einige Anmerkungen über die Mechanismen des Erinnerns machen:

Erinnern ist ein sehr komplexer, ein persönlicher und subjektiver Vorgang.
Man erinnert lieber Gutes und Geglücktes als Schlechtes und Missratenes.
Das eigene Leben erinnert man am liebsten so, dass man dabei möglichst gut wegkommt.
Zum Erinnern gehört auch das Vergessen. In der Regel geschieht Vergessen unbewusst.
Bewusstes Vergessen nennt man Verdrängen.

Geschichte ist erinnerte Vergangenheit.

Nach Niederlagen und Systemumbrüchen nimmt im privaten und im gesellschaftlichen Erinnern das Verdrängen zu.
Das eigene Versagen, die eigene Schuld oder Mitschuld  soll verschwiegen werden.
Man will sich „entschulden“ und der neuen Situation anpassen.
Dafür wird die eigene Lebensgeschichte umgedeutet.

Das Bekennen zu seiner eigenen Vergangenheit, zu ehrlichen Aufarbeitung von Irrtümern und Fehlern, von Versagen und von Schuld, kann moralisch schmerzhaft und materiell nachteilig sein. Verdrängen, Umdeuten, Umlügen erscheinen als die bessere Lösung.

Diese Mechanismen des Erinnerns wirken im Umgang mit individuellen Lebensgeschichten ebenso wie im Umgang mit den Geschichten von Gruppen, von Unternehmen, von Gesellschaften.

Im Umgang mit „normalen“ Vergangenheiten mag es nützlich und zukunftsfähig sein, nach dem Prinzip zu verfahren „Glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist.“

Im Umgang mit schwersten Untaten, mit Verbrechen gegen Menschlichkeit, aber muss ein anderes Prinzip gelten, wenn es hilfreich und zukunftsfähig sein soll.
Eine treffende Formulierung für dieses Prinzip stammt aus der jüdischen Tradition und lautet:„Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“.

Gegen das Verdrängen von schrecklicher Vergangenheit muss aktiv vorgegangen werden. Eine derartige Erinnerungsarbeit, ein ehrlicher und wahrhaftiger Umgang mit schwieriger Vergangenheit, kann langwierig und mühsam sein und muss nicht selten gegen Widerstände durchgesetzt werden.

Werbung Mercedes 1939

Werbeanzeige 20. Dezember 1939 (Innere Bilder, Abb.268)

Zurück zu Dr. Helmuth Bauer:
Er hat in mehr als zwanzigjähriger Forschungsarbeit, Begegnungsarbeit  und Erinnerungsarbeit die Geschichte der Zwangsarbeit von Frauen für Daimler-Benz in dessen Genshagener Außenlager detailliert erforscht und beeindruckend dokumentiert.

Seit 1992 hat er gemeinsam mit damals noch fünfzig Überlebenden vor allem aus Ungarn und Polen für die Erinnerung und Würdigung dieser Frauen durch Daimler-Benz gekämpft.

Er hat ein Stück verdrängter Vergangenheit aus dem Schatten des Mercedessterns ans Licht der Öffentlichkeit gebracht.

Leben und Schicksale dieser Frauen sowie die enge Verbindung des Daimler-Benz Konzerns mit der Nazi-Partei- und Staatsführung hat er in einem umfangreichen Buch dokumentiert:

Unter dem Titel „Innere Bilder wird man nicht los. Die Frauen im KZ-Außenlager Daimler-Benz Genshagen“ ist dieses Buch 2011 im Metropol-Verlag Berlin erschienen.

Das gleiche Themenfeld hat Dr. Bauer in mehreren Dokumentarfilmen bearbeitet.

Der erste dieser Filme wurde 1993 gedreht und hieß „Der Stern und sein Schatten – Daimler-Benz kehrt zurück in die Genshagener Heide“.


 

Edith Kiss 1943

Edit Kiss porträtiert ihre Schwester Alice 1943 (Innere Bilder…, Abb. 26)

Zu den bewegenden Frauenschicksalen, die Dr. Helmut Bauer erforscht, dokumentiert und publiziert hat, gehört das von Edit Kiss.

Zu ihrem „Album Deportation“ hat er mehrere Ausstellungen gemacht, so in Berlin, in Ravensbrück, in Potsdam, in Paris und in Budapest.

Er hat so auf vielfältige Weise diesen Frauen  ihre Würde wiedergegeben.
Bei vielen war dies erst postum möglich.

Sein langwieriger und zäher Kampf gegen das Verdrängen

war erfolgreich. Er hat sich gelohnt.

Seit 2014 trägt eine kleine Straße in Berlin entlang der Vertriebszentrale von Mercedes-Benz den Namen „Edith-Kiss-Straße“.

Sein Film „Kiss Edit: Elveszet képek” (Verlorene Bilder) ist im Ersten Ungarischen Fernsehen gelaufen.

Für seinen Film „Belsö képek – Àgnes és Edit“ (Innere Bilder – Agnes und Edit)
hat Herr Dr. Bauer bei dem Magyar Holocaust Filmfestival 2014 in Szolnok  den 1. Preis erhalten.

Am 19. März 2015 ist Dr. Bauer vom Bundespräsidenten Joachim Gauck
„für besondere Verdienste um Volk und Staat“ mit dem „Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland“ ausgezeichnet worden.

Für den 27. Mai 2015 ist Dr. Helmut Bauer vom französischen Staatspräsidenten Francois Hollande zu einer feierlichen Zeremonie im Pariser Panthéon eingeladen worden..
An diesem Tag wurden die sterblichen Überreste der französischen Ethnologin und Widerstandskämpferin  Gemaine Tillion feierlich in die nationale Ruhmeshalle Frankreichs und Grabstätte berühmter Persönlichkeitenüberführt.

Gemaine Tillion war 1943 zusammen mit ihrer Mutter in das KZ Ravensbrück deportiert worden. Sie gehörte nicht zu den Genshagener Frauen, hat jedoch die Bilder von Edith Kiss aus eigener KZ-Erfahrung heraus 1995 in einem Filminterview Dr. Helmut Bauers kommentiert.
Ihre 69 Jahre alte Mutter Emilie wurde am 3. Mai 1945 in Ravensbrück durch Giftgas ermordet. Sie selbst überlebte und wurde zu einer engagierten Aufklärerin von Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Über das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück hat sie ein dokumentierendes-anklagendes-mahnendes Buch geschrieben.
2008 ist Gemaine Tillion im Alter von 100 Jahren verstorben.

Liebe Freunde, meine Damen und Herren,
es ist für unseren Bürgerverein eine Ehre und eine Freude, dass Herr Dr. Helmut Bauer heute aus Berlin zu uns nach Gödelitz gekommen ist, um mit Wort und Bild über sein Schaffen als Erinnerungsarbeiter zu berichten und um mit uns über einen zukunftsfähigen Umgang mit schwieriger Vergangenheit zu diskutieren.

Lieber Herr Dr. Bauer, seinen Sie in unserer Mitte herzlich willkommen.

Meine Damen und Herren, liebe Freunde,
vor dem Vortrag von Dr. Bauer schauen wir uns in stillem Gedenken und Nachdenken gemeinsam die Bilder aus dem Zyklus „Deportation“ an. Wir werden auf diesen Bildern alle das gleiche sehen. In diesen Bildern werden wir wahrscheinlich abhängig von Alter, von Lebenserfahrung und von eigener Wertehierarchie auch unterschiedliches sehen, wird uns unterschiedliches durch Herz und Sinn gehen.
Darüber können wir nach dem Vortrag von Herrn Dr. Bauer ins Gespräch kommen.