Von Heimat(en) und dem Dazugehören

45. Kunstausstellung des ost-west-Forum Gut Gödelitz e. V. mit Arbeiten des Radebeuler Künstlers André Uhlig

Eröffnung am 1. September 2018  um 18:00 Uhr

Laudatio: Prof. Dr. Wendelin Szalai

 

Landschaftsbild in Erdtönen mit einem Haus im Wald.

Böhmische Schweiz (Kaffee/Kohle/Aquarell; 48 x 33 cm)

Liebe Mitglieder und liebe Freunde des ost-west-forum Gut Gödelitz,  sehr geehrte Frau Staatsministerin Köpping, meine Damen und Herren,

im Namen des Vorstandes unseres Bürgervereins begrüße ich Sie alle zu einer neuen Veranstaltung in unserer monatlichen Samstagabendreihe.

Viermal im Jahr eröffnen wir hier in der Alten Schäferei eine neue Kunstausstellung. Heute ist es unsere 45. Gezeigt werden Arbeiten von André Uhlig. Ich möchte Ihnen den Künstler, seine ungewöhnliche Biografie und seine Bilder kurz vorstellen. Beides wie immer aus meiner ganz persönlichen Sicht.

Zunächst aber begrüßen wir den Künstler in unserer Mitte. Lieber Herr Uhlig, seien Sie in Gödelitz herzlich willkommen.

Warum nenne ich seine Biografie ungewöhnlich? Die Künstlerinnen und Künstler, die wir bisher kennengelernt haben, waren entweder akademisch ausgebildete oder Autodidakten. André Uhlig ist weder das eine noch das andere.

Er hat sich seine Lehrer gesucht, ist bei ihnen in die Lehre gegangen, hat Einzelunterricht genommen.  So ähnlich war es vor Jahrhunderten, als es noch keine Kunstakademien oder Kunsthochschulen gab. Man ist zu einem Meister in die Lehre gegangen, hat dort den Beruf eines Malers erlernt.

Was ist der Künstler André Uhlig eigentlich von Beruf? Klar, er ist Maler. Und er ist Grafiker Er ist aber auch Drucker. Er ist Musiker und Sänger. Er ist Lehrer für das Drucken und für Musik. In all diesen Bereichen ist er freischaffend tätig. Oft arbeitet er in mehreren von ihnen gleichzeitig.

André Uhlig (Copyright: Markus Retzlaff)

Und so sieht seine Kurzbiografie in Stichworten aus:

1973 in Dresden geboren

1982-1987 Zeichenkurse bei Gerhard Rost in Radebeul

1987-2009 Zeichen- und Malstudium bei Dieter Beirich in Radebeul (Dieter Beirich hat 2009 unter dem Thema „Berge“ hier ausgestellt. Er  ist im Mai 2017 verstorben.)

1990-1993 Druckerlehre in Dresden

1991-2000 Gitarrenunterricht bei Herbert Voigt in Radebeul

Seit 1991 Musiker (Gitarre und Gesang) bei der Dresdner Band „The Novikents“

1993-2007 Druckinstrukteur im Druckmaschinenbauunternehmen  KBA-Planeta

1994-1999 Gesangs- und Stimmausbildung bei Ulrike Feilhaber

(Sie macht das auch für den Dresdener Kreuzchor)

2000 Teilnahme an einem Lithografiekurs im Riesa Efau Dresden

Seit 2001 Mitarbeit im „Freundeskreis Tiefdruck“ bei Wolfgang Bruchwitz in Dresden

Seit 2005 Experimentieren mit Kohlezeichnungen und Zeichnungen mit Kaffee, Experimentieren mit Gewürzen als Farbpigmente (angeregt durch Studienreisen nach Liverpool, Venedig und Indien)

Seit 2007 jährlich Teilnahme am Kunstsymposium „Strömungen“ im tschechischen Rehlovice

Seit 2008 als Lehrer für Ukelele und Gitarre tätig

Seit 2009 Mitglied im Künstlerbund Dresden

2010-2014 Dozent an der Jugendkunstschule Meißen

2010-2014 Musiker in der Dresdener Ukelele-Combo (Ukelele und Gesang)

2011 in Radebeul Eröffnung eines Ateliers in Gemeinschaft mit der Theatermalerin  Birgit Köhler

Arbeiten von ihm waren bereits auf zahlreichen Einzel- und Gemeinschaftsausstellungen zu sehen, vor allem in Radebeul, Dresden und Meißen.

Was könnte uns dieser Lebenslauf verraten? André Uhlig ist ein Vielseitiger, ein Lernender, ein Neugieriger, ein Suchender. Welche Art von Bildern könnte man bei dieser Biografie vermuten? Ich selbst habe expressive Figurenkombinationen mit starken Farbkontrasten oder auch unruhige, kraftvolle abstrakte Malerei erwartet.

Und nun schauen wir auf seine Bilder. Was sehen wir auf ihnen? Welchen Eindruck machen sie auf uns? Wie wirken sie auf uns?

Natürlich können die Antworten auf diese Fragen von Betrachter zu Betrachter ganz unterschiedlich auffallen. Ich vermute aber, dass viele von uns ähnlich wie ich einen Eindruck von stimmungsvoller Ruhe haben, ein Gefühl von entspannter Stille verspüren. In unserer schnellen und lauten Gegenwart kann das eine Wohltat sein.

Verglichen mit dem Vermuteten ist das eine Überraschung. Die Wirkung der Bilder dürfte sowohl an den Motiven liegen als auch an der Darstellungsweise. Wir sehen Landschaften und Bäume, dörflich wirkende Häuser, Kirchen, Brücken. Die Titelschilder verraten uns, dass es sich vorwiegend um Motive aus Radebeul, Dresden, dem Elbsandsteingebirge und dem nahen Böhmen handelt.

Was können uns diese Bilder über ihren Schöpfer sagen? Folgende Vermutungen drängen sich auf:

André Uhlig ist mit seinem Geburtsort Dresden und seinem Wohn- und Arbeitsort Radebeul eng verbunden.

André Uhlig hat einen Blick für die Schönheiten in der Natur, für das Schöne in seiner Umgebung.

André Uhlig mag das Dörfliche, das Gewohnte, das Beständige.

André Uhlig weiß um die Vergänglichkeit und möchte Schönes vor dem Verfall bewahren oder es mit seiner Kunst als Erinnerung festhalten.

Mit diesem Blick habe ich jedenfalls André Uhlig und seine Arbeiten gesehen. Und mit dieser Sicht im Hinterkopf habe ich ihn in seinem Atelier besucht. Unser Gespräch drehte sich zunächst um seine engen emotionalen Beziehungen zum Geburts- und Arbeitsort, um sein Wohlfühlen in diesem bekannten, nahen Raum, um seine engen Kontakte zur nahen böhmischen Landschaft.

Folgerichtig und zwangsläufig kamen wir dann auf das Thema „Heimat“ zu sprechen. Heimat, das ist ein weites Feld, und spielt  zur  Zeit in der öffentlichen Diskussion eine große Rolle.

Diese Aktualität  hat deutschlandweit viel mit dem Migrations- und Flüchtlingsproblem zu tun. Und in den östlichen Bundesländern kommen dazu noch die Schwierigkeiten mit der inneren Einheit, mit dem Zusammenwachsen von West und Ost.

Ich habe André Uhlig gefragt, was und wo für ihn Heimat ist. Seine Antwort lautete: „Heimat ist für mich natürlich dort, wo ich lange Zeit lebe, also Radebeul. Heimat ist für mich dort, wo ich mich wohlfühle, wo ich kreativ  sein kann,  zum Beispiel auch Böhmen und Indien“.

Kann also der Mensch mehrere Heimaten haben?

Nach dieser Antwort haben wir lange über den vielschichtigen, schwierigen, schönen und belasteten Begriff „Heimat“ geredet. Bei einem zweiten Atelierbesuch haben wir unser Gespräch fortgeführt uns dann auf den Titel seiner Gödelitzer Ausstellung geeinigt: „Von Heimat(en) und dem Dazugehören“. Lassen Sie mich einige Gedanken aus unserem Gespräch kurz darstellen. Es sind vor allem Überlegungen, die die Bilder von André Uhlig und unser Gespräch über diese Bilder in mir ausgelöst haben.

Es gibt keine einheitliche Definition von Heimat.Weitgehend übereinstimmend wird Heimat als nahe und bekannte Welt verstanden,  als Gegensatz zu Ferne und Fremdheit.Weitgehend übereinstimmend wird Heimat als ein enges Dazugehören verstanden.Weitgehend übereinstimmend wird der Verlust von Heimat, wird Heimatlosigkeit beklagt.

Das alles sind aber keine neuen Erfahrungen. Einige Zitate sollen es belegen:

Vom griechischen Tragödiendichter Euripides, 407 vor Christus verstorben, stammt der Satz: „Gibt es kein höheres Übel doch als den Verlust der Heimat“.

Johann Gottfried Herder, 1803 verstorben, formulierte: „Heimat ist da, wo man sich nicht erklären muß.“

Theodor Fontane, 1898 verstorben, meinte „Erst die Fremde lehrt uns, was wir an der Heimat besitzen.“

Otto von Bismarck, 1898 verstorben, hat in einem Brief  geschrieben: „Wie schön ist es, eine Heimat zu haben, mit der man durch Geburt, Erinnerungen und Liebe verwachsen ist.“

Der Begriff „Heimat“ besitzt also ganz unterschiedliche Dimensionen. Eine ist die räumliche. Heimat ist der Geburtsort, ist eine Selbstvergewisserung der Herkunft. Heimat ist Verortung im Raum. Für André Uhlig bedeutet das Dresden und Radebeul.

Die Vertreibung aus der Geburtsheimat wird als großer Verlust erlebt. Ich war im Mai dieses Jahres zu einem Heimattreffen in meinem Geburtsort Ganna, einem kleinen Dorf in Ungarn. Es ging um ein verantwortbares Erinnern an das Ende der Vertreibung vor 70 Jahren.  Ganna und Ungarn sind für mich Heimat als Erinnerungsort. Heimat hat also auch eine zeitliche Dimension.

Wichtig ist die soziale Dimension von Heimat:

Sommerabend am Fluss Ostrava; Farbgrafik 3 Platten; 28×33 cm

Heimat meint Dazugehören. Man ist vertraut mit dem Ort und den Menschen.  Man sieht den Bildern von André Uhlig diese Vertrautheit an. Die soziale Dimension geht oft mit der kulturellen Dimension von Heimat einher. Man ist mit der Sprache vertraut, mit den Sitten und Bräuchen. Man versteht und wird verstanden.

Und immer schwingt eine emotionale Komponente mit. Heimat ist auch ein Gefühl. Das Wort „Heimweh“ ist ein Anzeichen dafür. André Uhlig sagt, dass Heimat für ihn das und dort ist, wo er sich wohl fühlt.

Bernhard Schlink, er hat auch bei uns hier gelesen, spricht von Heimat als Utopie. Bei unserer Ausstellung „Wie fern ist Palästina“ des Leipziger Fotografen Mahmoud Dabdoub haben wir darüber geredet. Er ist als Palästinenser im Libanon geboren und aufgewachsen. Auf meine Frage, was und wo für ihn Heimat ist, hat er geantwortet:

„Ich habe in meiner Brust zwei Heimaten. Leipzig und Palästina. Palästina hat seinen Platz auf der linken Seite. Es liegt ganz nah an meinem Herzen.“

Dabei hat er Palästina nie gesehen. Er kennt es nur aus den Erzählungen seines Großvaters. Also Heimat als Erinnerungsort, als Sehnsuchtsort, als Utopie.

Wir sehen, dass ein Mensch durchaus mehrere Heimaten haben kann. Man kann eine Heimat verlieren, aus ihr vertrieben werden, und man kann eine Heimat finden. „Heimat“ können wir als dauerhafte Verortung verstehen, aber auch als einen Prozeß. Man kann sich an einem anderen Ort, in einem anderen Land neu beheimaten, sich dort einwohnen, sich eingewöhnen, ein neues Dazugehören entwickeln.

Ich selbst habe die Vertreibung aus der „alten Heimat“ erlebt und erlitten, und auch die Beheimatung in der „neuen Heimat“ erlebt und bewältigt.   Und das alles zweimal, das erste Mal mit  neun Jahren, das zweite Mal mit 50 Jahren.

Auf dem 41. Deutschen Historikertag 1996 in München gab es die Sektion „Verständnis wecken für das Fremde“. In dieser habe ich einen autobiografischen Vortrag zum Thema „Fremdheitsgefühle nach 1945 und nach 1989“ gehalten.

Manche westdeutsche Kollegen haben nicht verstanden, warum ich im Zusammenhang mit der Wende von Fremdheitsgefühlen statt von Freude gesprochen habe. Kein Wunder, für sie hatte sich mit der Wende prinzipiell nichts geändert. Ich aber bin aus politischen Gründen arbeitslos geworden. Ohne auch nur die Wohnung zu wechseln lebte ich plötzlich in einem anderen Land mit gegensätzlichen Wertungen für richtig und falsch, gut und böse. Ich fühlte mich fremd und heimatlos. Ich habe dann mehrere Jahre für meine Beheimatung im geeinten Deutschland gebraucht. Ich habe ein neues Dazugehören gewollt und aktiv betrieben. Und ich bin vielen Leuten in West- und Ost dankbar, die mir ein solches Dazugehören ermöglicht haben.

Beheimaten, Ankommen, Dazugehören verlangt Wollen und Ermöglichen von allen.

Ich denke, dass die als undifferenziert empfundene Abwertung der DDR als „Unrechtsstaat“ viele Ostdeutsche verletzt hat, weil sie ihr Leben in diesem Land, das für sie Heimat war, als abgewertet empfunden haben. Ihre Erinnerungsheimat DDR sah für sie anders aus als deren öffentliche, politische und mediale Darstellung.

Ich habe André Uhlig auch nach seinen Erinnerungen an die DDR gefragt. Er war ja bei deren Untergang 16 Jahre alt. Und zu seinen eigenen Erinnerungen kommen gewiss die seiner Eltern dazu. Hier seine Antwort:

„Die DDR war für mich meine Kindheit. Und die war für mich fast immer sehr positiv und unbeschwert, so dass ich sagen kann: Ich erinnere mich sehr gern an diese Zeit und will diese Ostalgie auch gerne weitergeben. Klar gab es politische Sachen, die mir überhaupt nicht gefallen haben und auch Grenzen. Aber diese Unbeschwertheit und Begrenztheit hatte auch gute Seiten für mich und andere. Wir konnten kreativ was daraus machen.“

Liebe Freunde, verehrte Damen und Herren,

Sie sehen, welche Fülle an Erinnerungen, Gefühlen, Gedanken, Fragen und Hoffnungen  unser neues Ausstellungsthema in mir auslöst. Und ich vermute, dass es manchen unter Ihnen ähnlich geht. Aber ich rede schon zu lange. Darum zurück zu den Bildern und zur Arbeitsweise des Künstlers André Uhlig.

Er ist viel unterwegs. Am liebsten zu Fuß. So erwandert er sich seine Heimaten.

Kohlezeichnung eines Weinberges

Winter im Weinberg (Kohle auf Flies; 220 x 200cm)

Gern übernachtet er dabei im Freien. „Erdverbunden“ lautete  das Thema einer seiner Ausstellungen. Bei deren Eröffnung hatte der bekannte Dresdener Laudator Thomas Gerlach gesagt, „dass André Uhlig gewissermaßen mit dem Stift in der Hand zur Welt gekommen und die Erde seine erste und dauerhafte Liebe geworden sei“.

André Uhlig nimmt sich Zeit zum Innehalten, zum Sehen, zum Zeichnen. Das für den Künstler wesentliche der jeweiligen Motive wird skizziert. Diese Zeichnungen im Freien füllen ganze Skizzenbücher. Zuhause im Atelier werden dann viele von ihnen zu großformatigen Bildern. Der gelernte Drucker liebt, erprobt und beherrscht verschiedene grafische Techniken. Seine Malgründe bekommen manchmal durch das Lavieren mit Kaffee eine tonige Erdverbundenheit. Kaffee, Erde und Sand mischt er gelegentlich den Farben bei. Gern schneidet er das Papier oder die Leinwand nachträglich auf das Format zu, das zu Bildmotiv und gewollter Aussage am besten passt.

André Uhlig hat sich beim Sehen, Skizzieren, Zeichnen, Drucken, Malen Zeit gelassen, um seinen prägenden Eindrücken den gewollten künstlerischen Ausdruck zu geben. Seine Bilder sind Verweilbilder. Wir sollten uns zumindest für ausgewählte Arbeiten zum Betrachten Zeit nehmen und uns an den Motiven und ihrer Darstellung erfreuen. Die impressionistisch und romantisch wirkenden Naturbilder von André Uhlig passen gut in die romantische Gödelitzer Landschaft. Und seine Vorliebe für alte Gebäude passt  gut in die Alte Schäferei, einen 200 Jahre alten Bau.

Die Bilder unserer neuen Ausstellung können aber auch Nachdenkbilder sein. Sie können uns anregen, über Natur, ihre Schönheit, ihre Gefährdung, ihren Schutz, unsere eigene Mitverantwortung dafür, nachzudenken.

Das Thema dieser Ausstellung „Von Heimat(en) und dem Dazugehören“ passt trefflich zu den Ansichten und Absichten unseres „ost-west-forum Gut Gödelitz“.  Unser Bürgerverein ist vor 20 Jahren gegründet worden. In der Veranstaltung am 17. November wollen wir daran mit Wort und Bild erinnern. Der Name unseres Vereins ist zugleich Programm: ost-west-forum!

Es ist ein Gründungsziel unseres Bürgervereins, den Langzeitprozeß der inneren Einheit unseres äußerlich schnell und friedlich geeinten Deutschlands aktiv und vielfältig zu befördern.

Ich wünsche unserer 45. Kunstausstellung viele interessierte Betrachter. Ich wünsche allen Betrachtern Freude an den schönen naturverbundenen Bildern von André Uhlig.

Ich wünsche aber auch Nachdenklichkeit, Nachdenken auch über Heimat, über unsere Heimat, unsere Heimaten, über unsere Möglichkeiten und unsere Bereitschaft,  Fremden bei uns eine Beheimatung zu ermöglichen.

Die Bilder von André Uhlig werden bis Mitte November zu sehen sein.