Der Bürgerrechtler Jens Reich spricht beim Ost-West-Forum über die Wende und ihre Chancen.
Döbelner Anzeiger, Montag 4. Oktober 2010
(Dagmar Doms-Berger)
„Ich bin unzufrieden über die heutigen Zustände und ich weiß nicht, wie man sie ändern kann.“ Das sagt Bürgerrechtler Jens Reich vor rund 200 Zuhörern am Sonnabend im Ost-West-Forum Gut Gödelitz. Reich war Mitbegründer des Neuen Forums, Abgeordneter der einzigen frei gewählten Volkskammer der DDR und 1994 Kandidat für das Bundespräsidentenamt. Der heute 71-Jährige begründete schon 1970 den „Freitagskreis“, der sich kritisch mit dem DDR-Regime auseinander setzte und die Demokratie von unten anstrebte.
Die Aussage Reichs offenbart Ratlosigkeit und ein wenig Verzweiflung über das Deutschland 20 Jahre nach der Wende. Die heutige Situation ändere aber nichts daran, dass der Herbst 89 ein toller Erfolg gewesen ist, so Reich. Die vordergründigen Ziele der Bürgerrechtler waren Meinungsfreiheit, Reform der Bildung, ein Ende der ökologischen Verantwortungslosigkeit und freie Wahlen gewesen – nicht das Konsumniveau des Westens.
Macher aus dem Westen
Doch die Entwicklung raste in Richtung Vereinigung davon. Die Mehrheit der Bevölkerung hielt nicht mehr den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft für das wichtigste Ziel. Sie setzten auf die „Macher“ aus dem Westen und damit auf die D-Mark. „Wir hätten mehr Zeit gebraucht.“
Die Wahlen 1990 seien viel zu schnell angesetzt worden. „Das Bonner Nilpferd war in einer Massivität gekommen, dass wir einfach hilflos waren“, sagt Reich. „Dem hatten wir nichts entgegenzusetzen.“ Es gab kein tragendes Konzept. Das Neue Forum wirkte nicht regierungsfähig auf die Bevölkerung. Die Bürgerrechtsbewegung wurde überholt und zur Seite geschoben.
„Es musste nicht alles so kommen, wie es kam. Es gibt immer Entscheidungsspielräume“, resümiert Reich. „Wir hätten uns nicht alles gefallen lassen müssen.“ Er hätte sich gewünscht, dass mit der Einheit eine neue Verfassung erarbeitet wird. „Ich finde es bis heute eine Schande, dass wir ein Grundgesetz haben, über das die Bevölkerung nie abstimmen durfte“, so Reich. Der Wissenschaftler hat des Öfteren auf die Notwendigkeit einer neuen Verfassung für die Zukunft Deutschlands hingewiesen. „Offenbar ist dies derzeit kein Thema“, sagt Reich.