Kölner Stadt-Anzeiger – Einander zuhören, statt übereinander reden

Hintergrund / Deutsch-Türkische Biografiegespräche im Rheinland

 

VON MICHAEL HESSE, 18.4.2012

 

Das Trennende zwischen Deutschen und türkeistämmigen Menschen in Deutschland ist oft gar nicht so groß, wie vielerorts angenommen wird. Was für beide Seiten eine verblüffende Erkenntnis darstellt, ist ein Ergebnis der Biografiegespräche zwischen Deutschen und Türken, die jetzt erstmals im Rheinland in der Trägerschaft des “Ost-West-Forums Gut Gödelitz” stattfanden. In der zweitägigen Veranstaltungsreihe auf Burg Namedy bei Andernach kommen in kleiner Runde acht Teilnehmer – vier Deutsche und vier Türkeistämmige – und zwei Moderatoren für ein Gesprächswochenende zusammen. Die Biografiegespräche finden bisher schon in Berlin, Konstanz und Saarbrücken statt. In einer halben Stunde soll jeder Teilnehmende seine Geschichte erzählen und über Werte und Ziele, Hürden im Leben, Kindheit und Schulzeit berichten – und dies in unverstellter, aber selbst gewählter Offenheit. Einander zuhören, statt übereinander reden: Das ist das Ziel dieses interkulturellen Gesprächs.

 

Organisiert und geleitet wird die Runde von Astrid Wirtz, politische Redakteurin des “Kölner Stadt-Anzeiger”, und dem türkeistämmigen Mediziner Hüseyin Aral. In der ersten Runde gaben acht Persönlichkeiten aus Gesellschaft, Kultur, Wirtschaft und Sport den Startschuss. Dabei war die Erkenntnis groß, viel übereinander gelernt zu haben. Vor allem aber, viel Gemeinsames entdeckt zu haben. So berichtete ein Teilnehmer vom Verlust der Sicherheit einer wohlbehüteten Kindheit, vom Verlust der Heimat. Ein anderer erzählte davon, wie er der Engstirnigkeit des religiösen Umfeldes hatte entkommen wollen. Beide, die so erzählten, waren nicht etwa türkeistämmig, sondern Deutsche. Die Analogien in den Lebenswelten erschienen vielen auf einmal verblüffend. Da betete der eine fünfmal am Tag, damals in Anatolien, der andere verpasste keine Maiandacht. Was für den einen der Aufbruch aus einem kleinen türkischen Dorf war, in dem eine fast archaische Lebensweise den Alltag prägte, war für den anderen die Flucht aus dem katholischen Umfeld der 60er Jahre, in dem es einer katholischen Frau nicht ohne weiteres möglich war, einen evangelischen Mann zu heiraten.

 

Dass in einem solchen Erfahrungsaustausch der Blick für das Leben der anderen an Prägnanz gewinnt, ist offenkundig. Wann hört man einem anderen Menschen schon 30 Minuten am Stück zu? Besonders, wenn man ihm ohnedies allzu oft unterstellt, die jeweils eigene Existenz nicht verstehen zu wollen. Seit 50 Jahren leben Deutsche und Türken zusammen, 2,9 Millionen Menschen hierzulande sind türkeistämmig. Doch Kenntnisse voneinander oder private Kontakte sind immer noch selten. Bis 2015 aber wird fast die Hälfte aller Kinder und Jugendlichen aus Einwandererfamilien stammen. Die Biografiegespräche verstehen sich als Brücke, um das Tal des Missverstehens hinter sich zu lassen. Die Idee solcher Runden stammt aus den Ost-West-Biografiegesprächen, die seit 18 Jahren auf Gut Gödelitz bei Dresden stattfinden, um Menschen aus den alten und neuen Bundesländern einander näher zu bringen. Auch für Deutsche und Türken wird es höchste Zeit, Raum für eine neue Wahrnehmung zu schaffen. Das Auswärtige Amt gab den Startschuss. Die Idee, dies in Biografiegesprächen anzustoßen, setzt auf den Effekt der Vervielfachung und Weiterträgerschaft. Der kleine Kreis sieht sich als Kraftzentrum, um über die Jahre viele Deutsche und Türken zusammenzubringen.

 

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