Ulm Südwestpresse – Gespräche von Herz zu Herz

Zehn Frauen, zehn Lebenswege, ein Wochenende: Das erste “deutsch-türkische Biographiegespräch” war ein intensives Erlebnis für die Beteiligten. Sie lernten die anderen besser kennen – und auch sich selbst.

 

Autor: CHIRIN KOLB | 16.01.2013

 

Eine runde Sache: Teilnehmerinnen und Organisatorinnen wie Christine Grunert Andrea El-Danasouri, Nesrin Dogan, Dorle Dilschneider und Gesa Krauß sind mit den ersten “deutsch-türkischen Biographiegesprächen” sehr zufrieden.

 

Wenn Dorothea Dilschneider von jenem Wochenende Ende November erzählt, dann leuchten ihre Augen, dann strahlt sie übers ganze Gesicht, auch noch Wochen später. “Es hat mich tief berührt”, sagt die 71-Jährige. “So ein kostbares Wochenende habe ich schon lange nicht mehr erlebt.” Dorothea Dilschneider, die alle nur Dorle nennen, hat am ersten “deutsch-türkischen Biographiegespräch” teilgenommen, das die Kontaktstelle Migration der Stadt Ulm und die Volkshochschule organisiert haben.

 

Vier deutsch- und vier türkischstämmige Frauen haben sich getroffen, dazu noch ein deutschtürkisches Moderatorenteam. Von Freitagabend bis Sonntagmittag waren sie zusammen im Kloster Roggenburg und haben von ihrem Leben erzählt. Aber nicht einfach so: Die Biographiegespräche laufen nach Regeln ab, nach dem “Gödelitzer Modell” (siehe Info-Kasten). Dazu gehört, dass immer nur eine redet und die anderen zuhören, zwar fragen, aber nicht unterbrechen, nicht bewerten. Von der Kindheit spannt sich der Erzählfaden bis ins Hier und Jetzt – wobei es jeder Teilnehmerin überlassen bleibt, was sie erzählen möchte und was nicht.

 

Die Erfahrung ist: Die Teilnehmer öffnen sich sehr. “Viele erzählen im Biographiegespräch das erste Mal so ausführlich von sich”, sagt Dr. Andrea El-Danasouri, die Dozentin an der vh ist und als Moderatorin dabei war. Um so offen zu sprechen, ist Vertrautheit nötig. Sie entstehe nur, wenn die Teilnehmer viel Zeit miteinander verbringen und durch nichts abgelenkt werden. Ebenso wichtig sei ein neutraler Ort “außerhalb des Alltags”.

 

Durch Erzählen und Zuhören, durch intensive Auseinandersetzung mit den anderen Teilnehmern – die Biographiegespräche sind nicht auf Frauen begrenzt – soll das gegenseitige Verständnis wachsen. “In den Medien rücken oft Konflikte und Probleme im Zusammenleben der Kulturen in den Vordergrund”, sagt Gesa Krauß, die Leiterin der Frauenakademie an der vh. Dazu sollen die Biographiegespräche ein kleines Gegengewicht bilden. Die acht Frauen, die in Alter, Herkunft, Lebenssituation, Bildung und Religiosität sehr unterschiedlich waren, erzählten also aus ihrem Leben. Dorle Dilschneider, die vor 35 Jahren den Ulmer Weltladen mitgegründet hat, von ihrer Arbeit als Übersetzerin, von ihrer Zeit in Afrika, von ihren vielen Ehrenämtern. Nesrin Doghan von ihrem Leben in zwei Kulturen. Sicher, die 35-Jährige hat türkische Eltern, sie selbst ist aber in Deutschland geboren und aufgewachsen, arbeitet als Assistentin der Geschäftsführung in einem Unternehmen aus der Gesundheitsbranche und hatte immer multikulturelle Kontakte. “Ich bin nicht festgelegt auf etwas”, sagt sie. “Ich vereine Türkisches und Deutsches in mir.” Sie hat sich für das Biographiegespräch angemeldet, weil sie eine Frage schon lange umgetrieben hat: “Wie begegnen wir uns?” Wie leben Menschen unterschiedlicher Herkunft, Nationalität und Kultur zusammen? An jenem Wochenende machte Nesrin Dogan die Erfahrung, dass es auf Kultur und Herkunft gar nicht so sehr ankommt. “Egal, wie unterschiedlich die Frauen waren, jede hat in der Lebensgeschichte der anderen etwas von sich selbst entdeckt.” Viele Erlebnisse und Erfahrungen seien nicht kulturabhängig gewesen, “sie haben viel mehr etwas mit dem Menschsein zu tun”.

 

Die Biographiegespräche sollen von Herz zu Herz gehen, und so war es auch, sagt Nesrin Doghan: “Es war für mich sehr emotional und bereichernd.” Dorle Dilschneider ging es ebenso: “Es ist eine solche Nähe entstanden. Wir wollten noch viel tiefer einsteigen, sind dazu aber nicht mehr gekommen.” Gelegenheit dazu gibt es beim planmäßigen Nachtreffen. Die Frauen wollen jedenfalls in Kontakt bleiben.

 

Das ist ganz im Sinne der Veranstalter. “Wir würden uns freuen, wenn aus den Biographiegesprächen ein Netzwerk entsteht”, sagt Christine Grunert von der Kontaktstelle Migration. Die deutsch-türkischen Biographiegespräche sollen einmal im Jahr stattfinden. Für Herbst ist das nächste geplant. Dank einer Anschubfinanzierung der Stadt Ulm ist die Teilnahme kostenlos. “Die Teilnehmer bringen ja schon Zeit und Mut mit.”