„Versteckspiel“ 50. Kunstausstellung des ost-west-forum Gut Gödelitz mit Arbeiten der Künstlerin Viktoria Graf

Eröffnung am 7. Dezember 2019 um 18:00 Uhr in der Alten Schäferei von Gut Gödelitz

Laudatio: Prof. Dr. Wendelin Szalai

Liebe Mitglieder und liebe Freunde des ost-west-forum Gut Gödelitz, meine Damen und Herren,

im Namen des Vorstandes unseres Bürgervereins begrüße ich Sie zu einer neuen Veranstaltung in unserer monatlichen Samstagabendreihe. Zu Beginn eröffnet unser Bürgerverein eine neue Kunstausstellung. Es ist unsere 50. Gezeigt werden Arbeiten von Viktoria Graf . Die Künstlerin ist zur Eröffnung nach Gödelitz gekommen. Darüber freuen wir uns.

Liebe Frau Graf, seien Sie in unserer Mitte ganz herzlich willkommen. Ich möchte Ihnen die Malerin  kurz vorstellen und zu ihrer Gödelitzer Ausstellung einige persönliche Überlegungen anbieten.

Viktoria Graf © VIKTORIA GRAF

Viktoria Graf ist 1985 in Dresden geboren. In dieser Stadt ist ihre künstlerische Ausbildung erfolgt, zunächst drei Jahre in der Fachrichtung Grafik und Design, danach an einem Mediencollege das entsprechende Fachabitur. Anschließend fünf Jahre Studium an der Hochschule für bildende Künste, Abschluss mit einem Diplom für Malerei und Grafik. Schließlich an der gleichen Hochschule ein zweijähriges Meisterstudium bei Professor Hans Peter Adamski. Seit 2012 lebt und arbeitet Viktoria Graf als freischaffende Künstlerin in Dresden.

Zu Studien und Arbeitsaufenthalten war sie bisher in Tschechien, Kroatien, Spanien, Italien und der Schweiz. Arbeiten von ihr waren bereits auf zahlreichen Ausstellungen zu sehen, so in Dresden, Meißen, Leipzig, Hannover, Frankfurt am Main, Berlin, Rotterdam und Zürich.

Und heute kommt Gödelitz dazu. Bei dem ersten Blick auf die Bilder dieser Ausstellung geht es wahrscheinlich vielen von Ihnen ähnlich wie mir. Die Bilder wirken anziehend und finden sofort meine Aufmerksamkeit: großformatige Arbeiten in einer kräftigen, hellen, freundlichen Farbigkeit. Und es handelt sich um Kinderbilder. Auf den meisten ist Bewegung. Es geschieht etwas. Die Künstlerin erzählt mit Pinsel und Farbe Geschichten. Viktoria Graf malt gegenständlich, aber sie malt nicht naturalistisch ab. Bei genauerem Betrachten der Bilder stellt man fest, dass es manche Bildinhalte so in der Wirklichkeit gar nicht gibt. Was hat die Künstlerin außer Realem und selbst Erlebtem gemalt? Auch Ersehntes, Befürchtetes, Erfundenes, Geträumtes, Fantastisches? Haben darum ihre Kinderbilder etwas Märchenhaftes an sich? Kinder und Märchen, das gehört ja zusammen.

„Der Maler soll nicht bloß malen, was er vor sich sieht, sondern auch, was er in sich sieht. Sieht er aber nichts in sich, so unterlasse er auch zu malen, was er vor sich sieht.“

Diesen Ratschlag des bekannten Malers Caspar David Friedrich habe ich bereits bei einigen unserer Ausstellungseröffnungen zitiert. Viktoria Graf hat beim Malen dieser Bilder viel in sich gesehen. In ihren äußeren Bildern hat sie gewissermaßen ihre inneren Bilder versteckt. Welche das sind, können wir vermuten. Wir können beim verweilenden Betrachten nach ihnen suchen. Wahrscheinlich hat die Künstlerin darum für diese Ausstellung den Titel „Versteckspiel“ gewählt. Spielen und Kinder, das gehört auch zusammen. Aber der Ausstellungstitel „Versteckspiel“ meint mehr als nur das zumindest früher beliebte Verstecken-Spielen der Kinder. In den Bildern von Viktoria Graf sind  mehrere Deutungs- und Bedeutungsmuster versteckt, vordergründige und hintergründige, äußere und innere, sichtbare und verborgene. Das kann  für uns Betrachter Einladung und Anregung zu einer fantasiereichen Suche sein,  vor allem zur Suche nach unseren eigenen Interpretationen und Deutungen. Die Frage, was wir auf den Bildern sehen, ist leicht zu beantworten: Auf den Bildern sehen wir alle dasselbe. Aber was sehen wir in diesen Bildern? Wie deuten wir sie? Was können sie für uns bedeuten? Die Antworten auf diese Fragen gehen nicht ganz so schnell, fallen nicht ganz so leicht. Sie brauchen etwas Zeit – Zeit zum verweilenden Sehen und zum Nachdenken. Und diese Antworten können von Betrachter zu Betrachter sehr unterschiedlich ausfallen. Lassen Sie mich an einigen Beispielen die Ergebnisse meines Sehens und Nachdenkens andeuten.

Erstes Bildbeispiel: An der Stirnseite des Ausstellungssaales sehen wir auf einem großformatigen, fast quadratischen Bild den Kopf eines Kindes. So heißt diese Arbeit auch: Kinderkopf. Ein Kindergesicht schaut uns mit wachen Augen an. Der Kopf wird von einer hellen Lockenpracht eingerahmt. Sofort fallen einem die vielen fremd wirkenden kleinen Bildelemente auf. Bei diesen „Zutaten“  handelt sich vor allem um kleine Tiere und um verschiedene – gegenständliche und abstrakte – symbolhafte Zeichen. Schmücken sie das Gesicht, wie es heute die Tattoos tun sollen? Was könnten diese Bildelemente bedeuten? Für mich symbolisieren sie in ihrer Gesamtheit die vielen, vielfältigen und nicht selten gegensätzlichen Einflüsse, denen die Kinder in unserer schnellen, lauten, bildgewaltigen Gegenwart beinahe überall und immer ausgesetzt sind. Wie sollen sich die Heranwachsenden in dieser  Informations- und Mediengesellschaft zurechtfinden? Wie deren Einflüsse verstehen, verarbeiten, einordnen, bewerten? Wie können sie sich bei den oft gegensätzlichen Einflüssen und Anforderungen orientieren? Wem können sie glauben, wem vertrauen, wen sich zum Vorbild nehmen? Eltern, Schule, Freundeskreis, Filme, Computerspiele, Werbung? Die Ablenkungen, Versuchungen und Verführungen sind zahlreich und oft überwältigend. Das Finden des eigenen Weges, das Herausbilden der eigenen Persönlichkeit ist  schwieriger geworden. Wer könnte, sollte, müsste den Kindern dabei orientierend  helfen? Und vor allem wie? Das wären für mich Grundfragen unserer Bildungs- und Schulpolitik. Leider werden sie dort nicht diskutiert. Bildung ist für unsere Zukunft von entscheidender Bedeutung. Darüber sind sich alle einig. Bildung besitzt aber eine Doppelbedeutung. Bildung ist einerseits Persönlichkeitsbildung und hat als solche einen Wert an sich. Bildung ist andererseits Ausbildung, hauptsächlich  Berufsausbildung.  Als solche hat sie in weitestem Sinne einen ökonomischen Wert. Auf beiden Feldern macht mich die derzeitige  Bildungs- und Schulsituation in unserem Land besorgt. Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit lassen zu wünschen übrig. Wer arm ist, hat in der Regel schlechtere Karten. Und die Armutsgefährdung von Kindern nimmt zu. Handwerk, Industrie und Hochschulen klagen über das sinkende Bildungsniveau der Lehrlinge und Studenten. Sogar in den Grundfähigkeiten des Lesens, Schreibens und Rechnens nehmen die Defizite zu. Aber zurück zu meinen Deutungen für einige ausgewählte Bilder und Bildelemente. Mit den Bildtiteln gibt uns die Künstlerin dafür einige Anregungen.

Zweites Bildbeispiel: Das Bild an der linken Wand vorn heißt „Die große Suche“. Ein Kind steht vor einer gläsernen Pyramide und schaut fragend hinein. Ich deute das als Suche nach Orientierung in seinem Leben, als Suche nach dem Sinn seines Lebens. Die Kinder werden in unserer freiheitlichen, offenen, pluralistischen Gesellschaft mit unterschiedlichen Sinnangeboten konfrontiert. Im Bild „Kinderkopf“ zum Beispiel deute ich einige der kleinen Bildelemente  als Sinnangebote durch Religionen. Man erkennt christliche  Kreuze, den islamischen Halbmond und das runde schwarz-weiße Yin-Yang Symbol aus dem chinesischen  Kulturkreis. Nun haben Religionen oft zu Hass, Gewalt und Kriegen geführt. Sie sind dafür missbraucht worden. Darum ist es wichtig, das Gemeinsame aller Religionen zu betonen, ihren sie verbindenden ethischen Kern. Hans Küng steht mit seinem „Projekt Weltethos“ für ein solches Denken. Ganz ähnlich sieht das der Dalai Lama, wenn er formuliert: „Man sollte in allen Religionen jene Übereinstimmung erkennen, die in der Tiefe des menschlichen Herzens gründet.“ In unserer Schule sind die Unterrichtsfächer Religion und Ethik auch Orientierungshilfen und Sinnangebote. In ihnen geht es in besonderer Weise um „Herzensbildung“. Aber Religions- und Ethikunterricht  kommen im öffentlichen Bildungsdiskurs kaum vor.

Drittes Bildbeispiel: Es hängt an der Rückseite unseres Raumes und hat den Titel  „Revolte“. Auf ihm zerstören Kinder etwas. Sie sind gewalt-tätig,  als Spiel oder in der Wirklichkeit. Ich deute dieses Bild als warnenden Hinweis auf die Zunahme von Hass und Gewalt in unserer Gesellschaft. Besonders in Filmen und Videospielen sowie in der Werbung sind die Kinder oft mit Hass und Gewalt in ihren vielfältigen Formen konfrontiert. Nicht wenige erleben Hass und Gewalt unmittelbar, auf der Straße, in der Familie und in der Schule.

Viertes Bildbeispiel: Auf dem mittleren Bild an der roten Wand  fahren Kinder auf einem Karussell. Aber das dreht sich gefährlich schnell. Der Titel lautet  „Wer nicht mitspielt, fliegt raus“. Ich sehe dieses Bild als Hinweis auf die unserer Konkurrenz- und Wettbewerbsgesellschaft innewohnende Gefährdung dessen, was wir Mitmenschlichkeit, Solidarität, Barmherzigkeit oder Nächstenliebe nennen. Indem unsere Gesellschaft auf Gewinner, auf Sieger fixiert ist, bringt sie zwangsläufig auch Unterlegene und Verlierer hervor. Auf den mitmenschlichen, solidarischen Umgang mit ihnen, den  Armen, Benachteiligten, Behinderten, Kranken kommt es vor allem an. Daran kann man die ethisch-moralische Qualität einer Gesellschaft erkennen. Wie steht es heute in unserer Gesellschaft eigentlich um Erziehung zu Anstand, zu gutem Benehmen, zu Rücksichtnahme, zu Höflichkeit und Freundlichkeit? Wo und wie lernen heute Kinder „was sich gehört – und was nicht“? Meine Damen und Herren, Sie bemerken wahrscheinlich, wie altmodisch  alle diese Wörter – Erziehung, Anstand, Rücksicht, Höflichkeit, Freundlichkeit – wirken. Im Alltag und im öffentlichen Diskurs spielt diese Herzensbildung kaum eine Rolle. Wir sollten aber nicht vorschnell über die schlecht erzogene Jugend klagen. Bildung geschieht ja auch über Vorbilder. Wir alle sind in der Pflicht.

Fünftes Bildbeispiel: Ich meine das etwas ungewöhnliche  Bild rechts an der roten Wand. Die Malerin hat ihm den Titel „Ausflug“ gegeben. Die Kindergruppe unter wehenden roten Fahnen erinnert vielleicht die älteren Ostdeutschen unter uns an die eigene Schulzeit in der DDR. Eine spezifische Vergangenheitsbetrachtung über Bildung und Erziehung in der DDR-Schule wäre sinnvoll, würde jedoch einen ganzen Abend füllen. Man kann das Bild aber auch als Zukunftswunsch deuten: Es ist wünschenswert, dass die Kinder mehr draußen spielen als drinnen. Es ist wünschenswert, dass Kinder mehr gemeinsam spielen als allein mit ihrem Handy. Es ist wünschenswert, dass sich Kinder gemeinsam und leidenschaftlich für eine gute, gesunde, friedliche  Zukunft engagieren – durchaus auch mit Transparenten und Fahnen. Mir fallen sofort an die Aktionen von „Fridays for Future“ein.

Ich gebe zu: Manche Bilder und Bildelemente dieser Ausstellung kann ich nicht deuten. Sie bleiben für mich rätselhaft und geheimnisvoll. Aber das Geheimnisvolle war immer schon eine Seite von Kunst. Man muss auch nicht jedes Kunstwerk rational deuten und interpretieren. Die emotionale Rezeption ist nicht weniger bedeutsam. Sie kann von Verwunderung bis zur Bewunderung reichen.

Liebe Freunde, meine Damen und Herren, jetzt habe ich ausschließlich  von meinen – zugegeben kritischen und besorgten – Deutungen der Bilder  unserer 50. Kunstausstellung gesprochen. Man kann die Arbeiten von Viktoria Graf aber auch anders sehen. Vielleicht interpretieren Sie die Bilder und die kleinen Bildsymbole ganz anders als ich. Probieren Sie es einfach aus. Und natürlich kann man sich über die farbkräftigen, freundlichen, symbolreichen und märchenhaften Kinderbilder der Viktoria Graf einfach freuen. Und natürlich schmücken sie unsere Alte Schäferei.

Ich habe Viktoria Graf  zweimal in ihrem Atelier besucht und mich mit ihr über ihre künstlerische Arbeit unterhalten, über ihre Ansichten und Absichten allgemein und speziell zu ihrer Gödelitzer Ausstellung. In diesen Gesprächen habe ich die Malerin als aktiv, agil, eloquent, selbstbewusst und nachdenklich erlebt. Sie sucht und geht ihren ganz eigenen künstlerischen Weg. So hat sie zwar in Dresden studiert, aber ihre Malweise erinnert mich eher an die Leipziger Malschule als an die  Dresdener. Neben ihrem Lehrer Hans Peter Adamski nennt sie Francisco de Goya und Gustav Klimt als Vorbilder. Sie ist auf der Suche nach Wahrheit, ihrer Wahrheit über sich selbst und über den Menschen. Der Mensch ist das zentrale Thema ihres künstlerischen Schaffens. Dabei sieht sie den Menschen in seiner ganzen inneren Widersprüchlichkeit. Philosophie und Psychologie sind darum für sie wichtig. Ihrer ganz persönlichen inneren Sicht gibt sie in ihren Bildern einen äußeren Ausdruck. Beim Malen sind für sie Erinnerungen und Fantasie gleichermaßen wichtig. Spontaneität und Zufall spielen eine große Rolle. An manchen Bildern arbeitet sie lange, korrigiert und übermalt. Viktoria Graf hat mir gesagt, dass sie sich ganz besonders darüber freut, in der 50. Kunstausstellung unseres Bürgervereins ihre Bilder zeigen zu dürfen. Liebe Freunde, meine Damen und Herren, damit ist diese „Jubiläumsaustellung“  des ost-west-forum Gut Gödelitz eröffnet. Im Namen unseres Vorstandes wünsche ich Ihnen Freude und Nachdenklichkeit mit den Bildern von Viktoria Graf.

„Kidhead“ 140 x 114 cm, Öl auf Leinwand, 2018 © VIKTORIA GRAF
„Die große Suche“ 150 x 130 cm, Öl auf Leinwand, 2016 © VIKTORIA GRAF
„Revolte“ 130 x 100 cm, Öl auf Leinwand, 2019 © VIKTORIA GRAF

Wer nicht mitspielt, fliegt raus.“ 120 x 140 cm, Öl auf Leinwand, 2015 © VIKTORIA GRAF

„Ausflug“ 110 x 90 cm, Öl auf Leinwand, 2012 © VIKTORIA GRAF